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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 23
50. Jahrgang | September
Noten
Symphonischer Revolutionär und Fusionär
Matthijs Vermeulens Symphonien endlich gedruckt
Matthijs Vermeulen (18881967) war Hollands größtes Genie auf dem Gebiet der symphonischen
Musik, und wohl der eminenteste, in jedem Fall aber originellste holländische Komponist seiner Generation.
Unlängst sind endlich bei Donemus in Amsterdam seine sieben Symphonien und die symphonischen Stücke
aus der Musik zum Fliegenden Holländer im Druck erschienen. Von allen diesen Werken sind auch
preiswerte Studienpartituren erhältlich. Vermeulen genoss zeitlebens erhebliche Missachtung, was ursprünglich
zweifellos mit seiner jahrelangen Tätigkeit als scharfzüngiger Kritiker, der kein Blatt vor den Mund
nahm, zusammenhing. Als 14-Jähriger wurde er mit den Grundlagen des Renaissance-Kontrapunkts vertraut und
erhielt Klavierunterricht. Trotz privaten Kompositionsunterrichts bei Daniël de Lange war er als Tonsetzer
weitgehend Autodidakt.
Als er sein erstes Werk, die zwischen 1912 und 1914 entstandene Erste Symphonie, dem Concertgebouw-Chefdirigenten
Willem Mengelberg vorlegte, erntete er den Spott eines Rachedurs-tigen. Diese ist ein helles, strahlendes Stück
in durchgehend unkonventioneller Polyphonie, welches die Einflüsse von Mahler, Strauss, Bruckner und Debussy
zu unverkennbar Eigenem transformiert. Wie alle weiteren seiner sieben Symphonien mit Ausnahme der dreisätzigen
Fünften ist sie einsätzig. Zwischen 1919 und 1920 schuf Vermeulen mit der Zweiten Symphonie
Prélude à la nouvelle journée seine revolutionärste Komposition in freier,
der Atonalität angenäherter Tonalität. Sie nimmt vieles vorweg, was bald darauf Edgard Varèse
erschließen sollte: grundsätzlich dissonante Organisation, Extremlagen-freudige Orchestration, abrupte
Strukturwechsel et cetera, wobei das motivische Material sehr konzentriert ist und so die zentrifugalen Kräfte
in hoch gespannter Balance hält. Die freie Polyphonie mag manchen ein wenig an Ives erinnern, doch ist
Vermeulen bei aller harmonisch-rhythmischen Modernität, die er bis zu seinen letzten Werken ausbaut
in der hohen Kunst der Vielstimmigkeit traditionsverbundener.
Er schafft in der Folge sozusagen bewusst eine Fusion von Elementen der Polyphonie der alten Niederländer
mit der aktuellen Klang- und Ausdruckswelt des 20. Jahrhunderts. Die Dritte Symphonie Threnos und Pan
(192122) erschließt, nach den grellen Klängen der Zweiten, dunklere Farben und kontinuierlichere
Klangräume weist also eigentlich einen symphonischeren Weg und diese Tendenzen variieren
und vertiefen sich in der monumentalen Vierten Les victoires (194041), die deutlich kontrastierende
Episoden organisch verwebt und mit Hoketus-artigen Mustern eine eigenartige Sperrigkeit erzielt. Herzstück
der dreisätzigen Fünften Les lendemains chantants (194145) ist ein fast 20-minütiges,
schwebendes, stimmungsvolles Adagio. In den zwei letzten Symphonien, Les minutes heureuses (195658)
und Dithyrambes pour les temps à venir (196365), ist der Gesamtverlauf fließender,
noch natürlicher aus den Gesetzen der Polyphonie hervorgehend. Der einstige Revolutionär hat zu zeitloser
Reife gefunden.
Die recht geringe Anzahl seiner Werke ist nicht nur Folge besessenster Ausarbeitung aller Details in Bezug
auf die Gesamtvision, sie war auch durch materielle Engpässe, das jahrelange Ausbleiben jeglicher Resonanz
in seiner Pariser Zeit (192046) und tragische Ereignisse in der Familie (die sich zudem in erschütternder,
doch niemals selbstbemitleidender Weise in seinen Werken niederschlugen) bedingt. Was Vermeulen schuf
seien es anspruchsvollste Kammermusik, aufrüttelnde Gesänge oder, vor allem, Symphonik ist
von höchster Qualität und Eigenart und offenbart mit jedem Hören mehr von seinem unerschöpflichen
Reichtum. Sämtliche Werke Vermeulens sind auch in einer 6-CD-Box erhältlich (Donemus CV 36-41, Vertrieb:
Peer Musik). Sie stellen extreme Anforderungen an die Aufführenden. Ernest Bour beispielsweise sprach davon,
Vermeulens Vierte sei das Schwerste gewesen, was er je gemacht habe. In den Orchesterwerken trägt dazu
gewiss auch die unkonventionelle und keineswegs pragmatische Instrumentation bei, die viel Feinarbeit erfordert.
Das Druckbild der Partituren ist sehr übersichtlich und klar, der weiße Umschlag ist unauffällig,
die Bindung bricht leicht. Schon die optische Architektur ist ein ästhetisches Vergnügen. Auch sämtliche
weitere Werke Vermeulens sollen bei Donemus in Druck gehen. Zum Einstieg möchte ich allen Mutigen, die
noch Entdeckerdurst haben und nicht unter dem von Slonimsky unnachahmlich humoristisch befehdeten Non-acceptance
of the Unfamiliar-Syndrom leiden, die Symphonien Nummer Zwei und Drei empfehlen. Es lohnt die Mühe,
und der Kundige wird anerkennen, dass für die Zweite Symphonie ein Platz in der Galerie der Klassiker
der Moderne überfällig ist.