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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 35
50. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Peter und die namenlosen Wölfe
25. Sommerkurs Centre Acanthes in Villeneuve-lez-Avignon
Acanthe ist der Bärenklau, ein auch unter Franzosen nicht sehr geläufiges Wort. Im Lexikon
steht es gleich hinter académie und Acadie. Als 1978, im zweiten Jahr des Sommerkurses,
damals noch in Aix-en-Provence, ein neuer Name gesucht wurde Stockhausen hatte im Gründungsjahr
1977 mit etwas zuviel persönlichem Stallgeruch vom Centre Sirius gesprochen ließ
sich der eingeladene Composer in Residence Iannis Xenakis kurzerhand das Wörterbuch reichen. Bei acanthe
blieb der Finger stehen (Klingt hinreichend ungewöhnlich, auch ein bisschen griechisch) und
der Kurs für junge Komponisten und Interpreten der neuen Musik hatte seinen Namen.
Acanthes 2001: Peter Eötvös und die ungarische Moderne. Foto:
C. Oswald
Bespielt wird seit 1987 die Chartreuse von Villeneuve-lez-Avignon, eine behutsam restaurier- te Sonne und Mistral
abschirmende päpstliche Kartause aus dem vierzehnten Jahrhundert. Dass sich Künstler gerade solche
Orte wählen, ist sicherlich kein Zufall, ist doch das Moment der Andacht nach dem Untergang des religiösen
Lebens in der Kunst wiederauferstanden. Nachdrücklich betonte denn auch der in diesem Jahr als Kursleiter
eingeladene ungarische Dirigent und Komponist Peter Eötvös, wie gerade seine Musik aus der Stille
hervorwächst, wie sie mit der Stille, mit dem Raum kommuniziert.
Im Windschatten des brummenden Festivaltourismus auf der gegenüber liegenden Rhoneseite trieb das der
Kunstpflege gewidmete, vergleichsweise beschauliche Treffen in der Chartreuse reichlich Knospen aus. Darunter
sind die wilden Pflanzen am wenigsten bekömmlich, auch wenn sie in der Regel prächtig dastehen und
weit leuchten. Wie eben der Bärenklau, der zur 25. Ausgabe dieser provencalischen Studierstube der zeitgenössischen
Musik seinem Namen alle Ehre machte. Vergleichbar den schon längere Zeit zum Effektreservoir neuer Musik
gehörenden Kratzgeräuschen hinter dem Steg, formulierte auch der diesjährige Sommerkurs einen
Subtext zum offiziellen Kursgeschehen. Dessen Programm orientierte sich am ungarischen Kulturhalbjahr MAGYart,
das noch bis Dezember die Interessierten in ganz Frankreich anspricht. Passend dazu entschied sich Claude Samuel,
der Leiter des Centre Acanthes, 2001 die ungarische Moderne von Bartók bis zur Gegenwart zum Thema zu
machen.
Dazu steuerte das Arditti-Quartett zwei Konzerte bei (Bartók, Ligeti und Kurtág sowie Eötvös
Korrespondenz) und zu Ehren des verstorbenen Xenakis, gemeinsam mit dem Pianisten Claude Helffer
ein eigenes Hommage-Konzert. Als Interpreten und Dozenten standen zur Verfügung das Pianisten-Gespann Pierre-Laurent
Aimard/Florent Boffard, der Schweizer Cellist Walter Grimmer sowie zum zweiten Mal die agile amerikanische Flötistin
und Stockhausen-Interpretin Camilla Hoitenga. Den Analysepart übernahmen Zoltán Farkas und die WDR-Fernsehmusikredakteurin
Gabriele Faust. Den orchestralen Rückhalt schließlich für die beiden Ateliers aus fünf
in Vorauswahl bestimmten dirigierenden Komponisten und acht jungen Nur-Dirigenten bildeten das Orchestre
Lyrique de la Région Avignon-Provence sowie das erst 1997 gegründete Budapester Spitzenensemble
UMZE.
Zusammen mit 161 Kursteilnehmern aus 37 Ländern formierte sich so ein imponierender Apparat, der von Peter
Eötvös in unauffälliger, wenn auch stets präsenter Weise gesteuert wurde. Eötvös
komplettierte seine Mannschaft mit dem jungen ungarischen Komponisten Balázs Horvath (geb. 1976) und
dem Auch-Dirigenten Gergely Vajda (geb. 1973) sowie mit zwei Komponisten der mittleren und älteren Generation:
Laszló Tihanyi (geb. 1956) sowie Zoltán Jeney (geb. 1943). Damit hatte sich die zeitgenössische
ungarische Musik von exterritorialen Größen wie Ligeti und Kurtág einmal abgesehen
tatsächlich für zwei Wochen im Herzen der Provence versammelt. Dabei geriet die Aufführung
von Eötvös Shadows unter der Leitung des Komponisten zum konzertanten Höhepunkt
des Kurses. Die Beiträge der vier andern Ungarn ebenso wie das Sonderkonzert der UMZE-Soloflötisten
Gergeley Ittzés und Zoltán Gyöngyössy hinterließen eher den Eindruck, dass die
neue ungarische Musik einen Punkt erreicht hat, wo ihr wirklich alles offen steht: der Weg in die neue Moderne
(die noch keiner kennt) oder Warteschleifen in der Postmoderne. Auffällig war jedenfalls, dass eine Figur
wie Bartók als praktisch einziger Traditionsgrund zwar nachdrücklich beschworen wurde, ohne dass
doch das intensive kompositorische Zwiegespräch gesucht worden wäre. Anders war das noch beim jungen
Eötvös. Wie die Eötvös-Spezialistin Gabriele Faust zeigte, suchte der Komponist in seinem
1961 entstandenen Klavierwerk Kosmos eine Spontanreaktion auf Gagarins Weltraumfahrt
auch in der fast etwas naiv anmutenden Nachzeichnung des Prozesses vom Big Bang bis zur Planetenbildung
das Gespräch mit Bartóks 1926 komponierten Klängen der Nacht.
Auch als Kursleiter überzeugte Eötvös mit Umsicht und einem großen persönlichen Einsatz,
auch wenn ihn sein eng gezogener Terminplan binnen vierzehn Tagen zweimal zu wochenendlichen Dirigierverpflichtungen
nach England rief. In den Ankündigungen zu seinen seinem uvre gewidmeten Ateliers und Analysen führte
dies zu den schönen Klammerzusätzen avec Peter und sans Peter. Dabei wurde
seine partielle Abwesenheit im Kreis der Jungdirigenten und Jungkomponisten erstaunlicherweise ohne Unmut zur
Kenntnis genommen. Dass Eötvös immer mal wieder entschwebte, rief vielmehr insgeheim Bewunderung hervor
weshalb darin auch Keimzelle und Treibstoff des anderen Programms, des Subtextes zu Centre
Acanthes 2001, erkennbar wurden: Wie führt der Weg von dieser Welt in die Eötvös-Welt? Eine Frage,
die für jeden Einzelnen aus dem Rudel der jungen, namenlosen Wölfe von eminent praktischer Bedeutung
war. Centre Acanthes 2001 gewährte somit mehrfache Einblicke: den in die kompositorische und interpretatorische
Welt des Peter Eötvös wie des jüngeren Ungarn und einen weiteren in die für gewöhnlich
verdeckte Welt darunter.
Die bestand zunächst aus fünf dirigierenden Komponisten, die Eötvös zu Kursbeginn anhand
des Prüfungsdirigats von Varèses Octandre aus einem Zehnerpool herausgefischt hatte.
Hart, aber gerecht wie alle bestätigten, auch der Leiter des zweiten Kompositionsateliers Zoltàn
Jeney, ein von Cage beeinflusster, aber im Unterschied zu Eötvös in Ungarn gebliebener Komponist.
Andererseits wäre Eötvös nicht Eötvös, ließe er nicht auch Ausnahmen von der
Regel zu. Die hieß Jin Jinj, zählt einundzwan-zig Lenze und kam direkt aus China. Die Nicht-Dirigentin
Jinj, die bei ihrer Berufsangabe (I am a composer) durchaus sympathisch-verlegen lächelte,
hatte mit charmed magnolia für sechs Blasinstrumente und Perkussion eine Arbeit vorgelegt,
die den Traditionsbezug mittels in die Flöte verlegter pentatonischer Skalen herstellte und im nächsten
Moment untergrub. Das Sechsminutenstück begann und schloss mit Tuttifortissimo, wobei die Instrumentalisten
des UMZE-Ensembles einen Kampfschrei auszustoßen hatten. Ein Knalleffekt, der klar machte: Wer etwas werden
will in der Welt der composers of serious music, muss nicht nur viel Talent, er oder sie muss auch
den Willen mitbringen, sich hinzustellen, wo und wie noch keiner stand.
Insgesamt blieb das Teilnehmerfeld auf dem Probeparcours von Centre Acanthes relativ geschlossen. So entschied
das Fotofinish vielleicht für den jungen, aus Süditalien stammenden, in Köln studierenden Komponisten
Valerio Sannicandro, der seine Konturen des Schreis (profili del grido), eine Art Metakommentar
zu Edvard Munchs Der Schrei, mit großer Überzeugungskraft selbst dirigierte. Solche Doppelbegabung,
solches Doppelinteresse mag, wenn überhaupt, die Botschaft von Centre Acanthes unter Peter Eötvös
gewesen sein. Komponieren und Dirigieren seinem Stern folgen und das Handwerk des Dirigierens verfolgen.
Mit seiner in den Niederlanden ansässigen, vor zehn Jahren gegründeten International Eötvös
Institute Foundation ist dies ein Programm, das Peter Eötvös in seiner Person wie in seinem
künstlerischen Handeln konsequent ver-folgt. Gemeinsam mit fünfundzwanzig Jahren Centre Acanthes sind
das zwei runde Daten fürs erfolgreiche Ineinander von neuer Musik, elaborierter Ästhetik und Pädagogik.