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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 5
50. Jahrgang | Oktober
Feature
Vom Dirigieren, Komponieren und Organisieren
Stefan Fricke interviewt Robert HP Platz zum Ende des Ensemble Köln
Zwanzig Jahre lang war das Ensemble Köln unter seinem Leiter Robert HP Platz eine feste Institution im
zeitgenössischen Musikleben. Das Ensemble wurde immer wieder ad hoc für Projekte zusammengestellt,
die Musiker wurden auch projektbezogen finanziert. Hoher Idealismus war wohl immer nötig, um sich ohne
öffentliche Förderung immer wieder mit zeitgenössischen Projekten auseinander zu setzen. Nun
aber ist ein Punkt erreicht, an dem sich das Ensemble genötigt sieht, seine Arbeit aus finanziellen Gründen
einzustellen. Anfragen bei der Stadt blieben ohne Erfolg. So kam es, dass das Geburtstagskonzert in Mönchengladbach
am 30. Juni zugleich das Abschiedskonzert wurde. Hierzu ein Interview, das Stefan Fricke mit Robert HP Platz
führte.
nmz: Herr Platz, Sie dirigieren ohne Taktstock. Warum?
HP Platz: Das hat sich von Anfang an so ergeben. Meine allerersten Eindrücke von Dirigenten
bei der Arbeit hatte ich als Jugendlicher im Fernsehen. Und da sah ich eine Probesession mit Ference Fricsay,
der ohne Stock dirigierte, merkwürdigerweise mit dem Orchester, mit dem ich gerade arbeite, dem Deutschen
Sinfonieorchester (DSO). Als ich dann anfing, mich in das Repertoire der sinfonischen Musik einzuarbeiten,
erlebte ich die verschiedensten Dirigenten wie Mitropoulos oder auch Pierre Boulez, die sich nur mit den Händen
auszudrücken verstehen. Auf jeden Fall ist das Dirigieren ohne Taktstock bei einer Ensemblebesetzung
ich verstehe Ensemble als dirigierte Kammermusik, wie sie im 20. Jahrhundert in der Nachfolge von Schönbergs
Pierrot lunaire entstanden ist vorzuziehen. Und wenn man diese Technik einmal perfektioniert
hat, kann man sich so auch bestens einem Orchester mitteilen.
Der Freibrufler als Dirigent: Robert HP Platz bei einer Probe.
Foto: Charlotte Oswald
nmz: In Elias Canettis Buch Masse und Macht von 1960 gibt es das Kapitel Der Dirigent.
Dort heißt es zu Beginn: Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit
des Dirigenten. Jede Einzelheit seines öffentlichen Verhaltens ist bezeichnend, was immer er tut, wirft
Licht auf die Natur der Macht. Was fällt Ihnen dazu ein?
HP Platz: Mir fällt dazu ein, dass die Strukturen sich auch gewandelt haben. Es gibt immer weniger
Orchester. Es gibt immer mehr hervorragende junge Musiker, die in diesen Orchestern spielen möchten,
und daraus folgt schon beinahe zwingend, dass das Niveau in diesen Orchestern immer höher wird. Es ist
also eine hoch spezialisierte Truppe, die da zusammen ist, und ich verstehe meine Arbeit nicht als eine Machtposition,
die es auszunutzen gilt zur Selbstdarstellung. Eher geht es um ein enges und notwendiges Zusammenarbeiten.
nmz: Im 19. Jahrhundert wurde dem in Personalunion agierenden Komponisten und Dirigenten gerne vorgehalten,
er schriebe Kapellmeistermusik.
HP Platz: Nun liegt das 19. Jahrhundert schon lange zurück. Die gesellschaftlichen Strukturen
haben sich stark verändert. Ich bin kein Kapellmeister, ich bin Freiberufler.
nmz: Die Personalunion des Dirigent- und Komponist-Seins ist keine Seltenheit. Bis ins 19. Jahrhundert
hinein war sie gang und gäbe...
HP Platz: Es war früher völlig normal, dass Ausführender und Autor in Personalunion
auftraten.
nmz: ... die Spezialisierung in Komponist, Dirigent und Instrumentalist/Sänger hat sich erst im
20. Jahrhundert dann richtig herausgebildet, obgleich es in der neuen Musik viele Mehrfachbegabungen gibt...
HP Platz: Die Musik, die Kultur allgemein, ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. So wie wir in
einer immer weiter sich diversifizierenden und spezialisierenden Gesellschaft leben, so spiegelt sich das
auch in der Kunst. Daher wundert mich das nicht. Die Partituren wurden immer noch spezialisierter, und dass
nicht jeder Komponist das, was er schreibt, selbst ausführen könnte, wie das früher gang und
gäbe war, das geht aus den Partituren hervor. Dass es dann gleichwohl Begabungen gibt, die beides können,
muss man nicht als ganz besonderen Zufall werten. Jeder Mensch hat noch zusätzliche Begabungen. Manche
Komponisten sind hervorragende Musikwissenschaftler oder sie können etwas anderes sehr gut bis hin zu
Charles Ives, der ein hervorragender Versicherungsagent war. Jeder Mensch hat Begabungen in sich, die man
nur rausholen muss, und wenn es dann per Zufall eine zweite musikalische Begabung ist, ist nichts Schlimmes
dabei.
nmz: Sehen Sie bei den anderen Kollegen, die als Komponist und als Dirigent arbeiten, eine dirigentische
Handschrift, die sich auch in deren Werken abbildet?
HP Platz: Bei Boulez habe ich oft geglaubt beobachten zu können, dass sein Dirigierstil von
seinen eigenen Kompositionen kommt und auch umgekehrt, dass es da einen Zusammenhang gibt: bestimmte Rubato-Techniken
etwa, die seine Interpretationen von Debussy prägen, was damals für viel Furore gesorgt hat und
die direkt widerspiegeln, wie er mit seinen eigenen Stücken umgeht. Bei anderen Kollegen ist mir das
aber so nicht aufgefallen. Über mich selbst kann ich das auch nicht sagen, diese Beobachtung machen andere
besser.
nmz: Bezeichnen Sie sich eher als Komponist oder als Dirigent?
HP Platz: Das kommt immer darauf an, wann Sie mich fragen. Heute Nachmittag bin ich sicherlich mehr
Dirigent als Komponist, weil ich morgen hier in Berlin das Konzert mit dem DSO habe und darin völlig
aufgehe. Ab übermorgen Früh oder sogar morgen Abend gegen 22.00 Uhr werde ich kurzfristig ganz vehement
Komponist sein, und dann eine Woche wieder Dirigent und dann für den Rest des Sommers ganz dezidiert
Komponist. Ich bin nicht ein Dirigent, der wie manch andere, die ich dafür bewundere nach
der Probe ins Hotel geht, Partitur und Bleistift nimmt und am nächsten Orchesterstück weiterschreibt.
Ich brauche den Abstand. Ich habe versucht, mein Leben so zu organisieren, dass es immer wieder Abschnitte
gibt, in denen ich nur komponiere oder nur dirigiere.
nmz: Sie dirigieren, soweit ich das übersehe, ausschließlich zeitgenössische Musik.
HP Platz: Jain. Ich habe auch Debussy, Mahler und Janácek dirigiert. Es ist eine Krux des dirigierenden
Komponisten in Deutschland, der seine Dirigierlaufbahn von der neuen Musik aus auf natürliche Weise beginnt.
Wenn es Rundfunkredakteure gibt, die seine Arbeit schätzen und ihn wieder zu Dirigaten einladen, dann
sind es Redakteure für neue Musik. So bleibt man erstmal mit dem Etikett beklebt und kommt nicht darüber
hinaus. Aber das wird sich ändern.
nmz: Die Beschäftigung mit der Gegenwart führt ja meist zur Vergangenheit, der umgekehrte
Weg nicht unbedingt. Der Dirigent wird ja im Allgemeinen mehr gefeiert als der Komponist, meist sind
auch dessen Gagen höher. An einem solchen Starkult ist vor allem die Musikbranche interessiert, die ja
vor dem Zeitgenössischen nicht halt macht, und in Abhängigkeit zu diesem das Publikum. Haben Sie Tipps
fürs Publikum, wie es dem Starkult entkommen kann?
HP Platz: Ich würde das nicht einen Starkult nennen. Ich glaube, dass ein persönlicher
Kontakt mit den Menschen, die diese Musik machen, für jeden Hörer eine Erleichterung bedeutet, eine
Erleichterung des Zugangs zu dieser Musik. Der persönliche Kontakt verschafft Zugang und wenn das Publikum
einem Interpreten vertraut, und dieser Interpret die Integrität besitzt, dieses Vertrauen in die Waagschale
zu werfen für eine erstklassige Aufführung neuer oder neuester Musik, dann finde ich das hervorragend
und das ist keineswegs mit einem Begriff wie dem des Starkults zu kritisieren. Als Beispiel: wenn jemand wie
Mauricio Pollini das ist ein Beispiel, das ich vor etwa zwanzig Jahren in der Bonner Beethovenhalle
beobachten konnte einen Klavierabend gibt mit Chopin und Stockhausens Klavierstück X,
dann kommen die Leute natürlich nicht wegen Stockhausen, sondern wegen Pollini und weil er auch Chopin
spielt. Das hat eine ganze Menge bewegt.
nmz: Wie schützt man sich davor, nicht das Orchester zu dirigieren, sondern die Partitur?
HP Platz: Zunächst einmal dadurch, dass man die Partitur beherrscht wie niemand sonst auf dem
ganzen Erdball. Im Idealfall entsteht so eine Sicherheit für die Musiker, aus der eine großartige
Arbeitsintensität resultiert: da geht es nur noch um die Partitur. In schwierigen Fällen, wenn
was zwar nicht oft, aber leider doch einmal vorkommt, so wie hier gerade anlässlich der Urauführung
von Richard Barretts Orchesterkomposition Vanity ein oder zwei von fast neunzig Spielern
aus einer Abneigung gegen diese Musik heraus quer schießen, dann kann es schon geschehen, dass die Arbeit
mit dem Orchester sich vor die Partitur schiebt.
Aber wie gesagt: das sind nur zwei von fast neunzig hervorragenden Musikern, und sie werden nicht die Aufführung
beeinträchtigen. Auf der anderen Seite führt Ihre Frage vielleicht in eine falsche Richtung: Es
ist eine wunderbare Erfahrung, im Konzert direkten Kontakt mit den Musikern zu haben, manche Einsätze
per Augenkontakt zu geben...Wer nur die Partitur dirigieren wollte und dabei vergisst, dass da
neunzig Musiker vor ihm sitzen, die nur durch seine Zeichensetzung zusammenfinden, der wäre verloren.
nmz: Vor zwanzig Jahren zeitgleich mit der Gründung des Ensemble Modern haben Sie
zusammen mit anderen Musikern das Ensemble Köln gegründet, dessen Motor und künstlerischer Leiter
Sie sind. An die dreihundert Uraufführungen nahezu aller bedeutenden Komponisten der Gegenwart hat die
Formation seither realisiert...
HP Platz: ...und es kommen noch zwei Uraufführungen eine von Klaus K. Hübler und
eine von Gerhard Stäbler hinzu, die das Ensemble Köln im Festkonzert zum 20. Geburtstag des
Ensembles am 30. Juni bei der Ensemblia in Mönchengladbach realisieren wird. Leider ist das
Geburtstagskonzert in der Planungsphase zum Abschiedskonzert mutiert: das Ensemble hat sich zwanzig Jahre
ohne jede institutionelle Förderung auf hohem künstlerischen Niveau halten können, aber die
Zeiten ändern sich, andere Ensembles bekommen Proberäume und Büro- und Organisationspersonal
von der Stadt oder der Region gestellt, in der sie arbeiten. Das Ensemble Köln nicht, und so stehen wir
finanziell an der Wand. Da trotz wiederholter und dringender Hilferufe keine Hilfe gewährt wird
dazu fehlt der politische Wille, der konzentriert sich zurzeit in Köln wohl eher auf das Theater mit
dem Theater gibt es keine andere Wahl als das Ende. Das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Köln
haben das Ensemble Köln ausbluten lassen. Und seit mir nun ein Schreiben der Kölner Kulturdezernentin
Hüllenkremer vorliegt, dass Hilfe für das Ensemble Köln nur im Rahmen einer Gesamtlösung
für alle Ensembles in Köln möglich sei, war für mich die Schmerzgrenze erreicht.
Ich hatte zuvor mit Herrn Blömer, dem kulturpolitischen Sprecher der CDU-Fraktion im Stadtrat gesprochen,
ihm das Leid des Ensembles geklagt und ihm ein Dossier überrreicht mit Detailinformationen. Er wollte
daraufhin mit Frau Hüllenkremer sprechen, um zu sehen, was zu machen wäre: viel würde es auf
die Schnelle sicher nicht, aber immerhin etwas. Die Antwort war der besagte Brief aus dem Kulturamt an Blömer,
der ihn in Kopie dem Ensemble zur Verfügung gestellt hat. Selbst die Übernahme der Probe- und Büroraummiete
hätten gegenüber der Bank geholfen. So aber musste ich die Notbremse ziehen und alle Aktivitäten
einstellen. Das Mönchengladbacher Geburtstagskonzert wird tatsächlich das Abschiedskonzert des Ensemble
Köln sein.
Das Interview fand am 22. Juni 2001 in Berlin statt, im Umfeld von Proben mit dem Deutschen Sinfonieorchester.
Robert HP Platz dirigierte am 23. Juni ein Konzert mit der Uraufführung von Richard Barretts Orchesterstück
Vanity (2001) sowie Michael Beils AUS EINS MACH ZEHN für Orchester und Zuspiel
und Morton Feldmans Voice and instruments.