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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 25
50. Jahrgang | Oktober
Hochschule
Aber die Tonleiter hat noch immer Stufen
Tagung der Interessengemeinschaft behinderter und chronisch kranker Studierender in Berlin
In unmittelbarer Nachbarschaft des Senders Freies Berlin am Theodor-Heuss-Platz liegt das ISB, das Internationale
Studienzentrum Berlin. Finanziert von der Bundesregierung ist es ein Studentenheim mit internationalem Flair
und breitem Angebot für die Studierenden aus aller Welt. Am letzten Wochenende des Juni 2001 konnten Studierende
aus vielen Ländern der Welt Zeugen einer besonderen Veranstaltung sein: Die Interessengemeinschaft behinderter
und chronisch kranker Studierender Berlin hatte zusammen mit dem Studentenwerk Berlin zu einer Tagung eingeladen,
in deren Verlauf ein Aspekt der bundesdeutschen Realität unter die Lupe genommen werden sollte: Die Tücken
des Wohlklangs für Menschen mit Behinderung. Warum gibt es so wenige behinderte Berufsmusiker? Wer oder
was hindert Menschen mit Behinderung am Studium der Musik? Welches sind die inneren und äußeren Barrieren?
Welche Bedeutung kann Musik im Leben von Menschen mit Behinderung haben? Wie kommen Menschen mit Behinderung
in Liedtexten vor? Was haben Musik und Körper miteinander zu tun?
Ein reichhaltiges und bunt gemischtes Programm. Vorträge, Podiumsdiskussionen, Diskussionen von allen
mit allen. Jazzfrühstück, Konzerte und nicht zu vergessen, Abschlussparty. Etwa 60 Teilnehmerinnen
und Teilnehmer: Das Publikum war ein besonderes. Engagierte Mitdiskutanten aus verschiedenen Berufszweigen,
Professorinnen und Professoren, Hochschuldozenten, Musikerinnen und Musiker und viele Menschen mit Behinderung
waren gekommen. Menschen, denen Musik Lebensinhalt ist. Ein blinder Student, der Klavier als Hauptfach studiert.
Ein sehbehinderter Cellist. Eine Studentin und ein Musikschullehrer mit Multipler Sklerose. Zwei durch Unfall
hirnverletzte Männer jüngeren Alters. Ein Gitarrist mit Kinderlähmung. Ein blinder Trommler,
ein blinder Geiger. Menschen mit höchst unterschiedlichen und besonderen Schicksalen und mit beeindruckenden
Antworten auf die Herausforderungen ihres Lebens.
Die größte Herausforderung, darin waren sich alle einig, ist die Behinderung der Behinderten
durch die Nichtbehinderten. Sie sind eine Zumutung für mich musste sich eine sehbehinderte
Studentin von ihrer Dozentin anhören oder Wie wollen Sie vom Blatt spielen? ein blinder Student.
Es gibt aber auch den berühmten Silberstreif am Horizont: An manchen Hochschulen können so genannte
Ersatzleistungen erbracht werden, wenn aufgrund der Behinderung bestimmte Leistungen nicht in herkömmlicher
Weise abgeprüft werden können. Leider muss diese Möglichkeit oftmals auch erst erkämpft
werden zum Beispiel mit Hilfe der Interessengemeinschaft behinderter und chronisch kranker Studierender.
Die Bedeutung, die das Musikmachen im Leben von Menschen mit Behinderung erhalten kann, kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Die Begeisterung für Musik macht jung und manchmal auch gesund oder zumindest
gesünder. Cirilo Adriazola, gebürtig in Chile, ist mit drei Monaten an Kinderlähmung erkrankt.
Neben den Beinen waren auch die rechte Hand sowie die Atmung betroffen. Schon als Kind wollte er unbedingt zur
Gitarre singen. Durch das Singen lösten sich die Probleme mit der Atmung, durch den unbeugsamen Willen
zum Gitarrenspiel und das Üben entwickelte sich die rechte Hand. Sie ist seit langem ebenso kompetent wie
die Linke. Hätte man Cirilo früher etwa sagen sollen: Kind, es lohnt sich doch nicht, das ist nichts
für dich?
Chronische Haltungen
Der Wille zur Musik macht nicht nur gesund er macht auch krank. Hartmut Puls, Lehrer für Physioprophylaxe
an der Hochschule für Musik in Berlin kann ein Lied von den Risiken und Nebenwirkungen des Musikerberufs
singen. Eine Untersuchung aus den USA macht zum Beispiel deutlich, dass 76 Prozent der Orchestermusiker körperliche
Probleme haben, die das Spiel beeinträchtigen und behindern. Wie kann es anders sein: Ein tägliches
Üben von fünf bis zehn Stunden zwingt dem Körper bestimmte chronische Haltungen auf
und lässt die besonders belasteten Bereiche rebellieren. Von Belastungen, die nicht nur den Körper,
sondern auch die Seele krank machen, ganz zu schweigen. Auftrittsängste, Existenzängste, Umgang mit
Konkurrenz: kein leichter Job. Hartmut Puls sorgt an der HdK dafür, dass die Studierenden zumindest im
Grundstudium auf die körperlichen Folgen des Instrumentalspiels aufmerksam gemacht werden. Der Wille zur
Normalität war überwiegender Tenor der Tagung. Wir als Behinderte sollen keine Klagelieder singen,
wir sollen Räume erkämpfen, fordert Cirilo Adriazola.
Eigensinn und Eigenart
Die Abschlussveranstaltung folgte diesem Grundgedanken: In Anlehnung an eine Veröffentlichung der Bundesvereinigung
Kulturelle Jugendbildung in Remscheid mit dem Titel Eigensinn und Eigenart (Remscheid 1999) unterstützten
sich Referentinnen und Referenten sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenseitig im Entwurf einer Utopie und
in Ansätzen ihrer Realisierung. Musik und Menschen mit Behinderung dies hat zunächst einmal
nichts mit Therapie zu tun.
Dass Menschen mit Behinderung Musik machen und am Musikleben der Gesellschaft teilhaben wollen, ist die normalste
Sache der Welt. Es ist Aufgabe der Pädagogen von der Frühfördereinrichtung bis zur Hochschule,
dafür zu sorgen, dass kleine und große Menschen mit Behinderung ihre Liebe zur Musik leben, ihren
tieferen Interessen und ihrer Berufung folgen können. Die Pädagogik muss sich da auf verschiedenen
Ebenen immer wieder etwas Neues einfallen lassen. Aber das ist ja schließlich ihr Job.
Irmgard Merkt
Die
Dokumentation der Tagung kann bestellt werden bei K.-P. Drechsel, Studentenwerk Berlin, Beratung für
behinderte und chronisch kranke Studierende, Franz-Mehring-Platz 2, 10243 Berlin.