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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 44
50. Jahrgang | Oktober
Nachschlag
Keine Kunst
Karlheinz Stockhausens Schwachsinn (Terror als Kunstwerk) steht nicht allein. In künstlerischer
Vorwegnahme widerfuhr ihm, was sich heute deutlich abzeichnet und was die folgenden Generationen immer wieder
in Konflikte bringen wird: Er vermochte Realität und Fiktion nicht zu trennen. Im Dienstag
aus LICHT hatte er selbst mit einer von Ernst Jünger abgezogenen Feuer- und Laser-Gier ein Szenario militanter
Gewalt entworfen, und nun musste er erleben, wie sehr seine Phantasmagorien hinter den jetzigen Bildern hinterherhinken.
Vielleicht macht das die Größe unseres Schocks aus. Die ganze Zeit verwandeln wir auf unserem
PC, im Kino, vorm Fernsehen, beim Musikhören über die Medien die Wirklichkeit in Fiktion und
dort bewegen wir uns in einer Welt, in der man alles darf. Wir jagen Faschisten oder Kommunisten, wir zerstören
Städte und Raumstationen, wir legen ein Land unter Feuer oder chemische Gifte. Der Computer warnt: Vorsicht,
du könntest Zivilisten treffen, aber man stört sich nicht daran. Ob es sich hochrechnen lässt,
wie viele Moorhühner seit der Erfindung des Spiels abgeballert wurden? Macht alles nichts, am Schluss ein
Knopfdruck und wir stehen wieder im wirklichen Leben oder in einer anderen Fiktion. So, als ob man von
Hollywood nach Disney-Land wechselt.
Für die New Yorker Katastrophe aber gab es keinen Knopf zum Abschalten. Und dieses Faktum sagte uns,
dass real war, was wie ein besonders ausgeklügeltes Katastrophenspiel wirkte. Auch sonst mussten und müssen
wir erleben, wie sich bei diesem Menetekel der medialen Gegenwart Fiktives und Realität unentwirrbar vermengen.
Dazu gehört, dass mehrere Personen im World Trade Center das brennende Gebäude zum ersten Mal im Fernseher
sahen und zwar noch im selben Gebäude. Dazu gehört besonders die Funktion des Gebäudes
selbst, denn es war stahl-gläserne Umrahmung einer Welt, in der permanent die große Fiktion des Kapitalismus,
der Tauschwert, zur weltbestimmenden Realität mutierte. Die Broker lebten hier zwischen Hausse und Baisse,
wobei sie sich die Börsenkurse wie Spielbälle von Computer zu Computer zuwarfen und sie mit jedem
Wurf veränderten. Das World Trade Center war das Sinnbild der Tauschwertfiktion überhaupt.
Wo alles zwischen Fiktion und Realität changiert, da existiert auch der Feind in dieser Spanne. Man will
ihn sehen, dingfest machen, jede 007- oder auch Nullachtfünfzehn-Regie braucht diesen hinter allen Dingen
stehenden Feind, den genialen Kopf, der mit allen Mitteln dieser und nicht nur dieser Welt ausgestattet ist.
Und bezeichnend ist, dass wir dazu wiederum eine Fiktion schaffen. Bin Laden wurde zu diesem Emblem des personifizierten
Bösen und die ganze Welt soll ihn jagen. Wobei wir beim amerikanischen Präsidenten sind. Selbst
ihm scheint die Verkehrung von Fiktion und Realität irgendwie aufgefallen zu sein, denn er spricht wie
ein vorzeitlicher Augur vom nun anstehenden entscheidenden Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, während
ihn die Taliban wie aus einem Spiegel anblicken und diese ehernen Werte genau umkehren. Und bescheiden erinnert
sich Bush an die harmlosen Cowboy-Fiktionen seiner Kindheit, wo sich das Böse vor allem über eine
Tafel in sein Gedächtnis eingrub: Wanted dead or alive. So wird alles zum inszenierten
Spiel, in das sich auch alle Politiker der zivilisierten Welt (auch eine Fiktion!) einreihen: mit
einer Nebenrolle als Play-back-Chor der uneingeschränkten Solidarität. Schon bei den letzten
Kriegen (Irak, Jugoslawien) erlebte die Welt, wie über fingierte Bilder hüben wie drüben die
Realität beeinflusst wurde. Jetzt haben wir eine neue Stufe: Wirklichkeit und Fiktion werden immer weniger
unterscheidbar und vermengen sich. Deswegen werden wir vermutlich auch bei den Vergeltungsschlägen dem
als Sirius-Bewohner der Realität ohnehin entrückten Herrn Stockhausen sagen müssen: Das
ist keine Kunst.