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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 37
50. Jahrgang | Oktober
Jazz, Rock, Pop
Du musst zum Cyborg werden...
Neues vom isländischen Gesamtkunstwerk Björk: CD Vespertine und Bilderbuch
Ich gestehe, ich bin kein Fan der ersten Stunde. Björks hysterisches Gekreische bei den Sugarcubes
ging mir eher auf den Wecker. Aber seit ihrem Debut-Album, 1993, und den Songs Venus As a
Boy und Play Dead hat sie mein großes Pop-Herz erobert. Und spätestens seit ihrer
zweiten Platte mit Hyper-Balladen (Post) ist sie zur Ikone geworden, zur Cyber-Björk.
Wenn es eine Eigenschaft gibt, die das Wesen des modernen Popstars definiert, schreibt Rick Poynor
in dem schönen, zeitgleich erschienenen Björk-Bilderbuch (Schirmer/Mosel), dann
ist es die Fähigkeit, das Publikum mit einem permanenten Imagewechsel zu überraschen. Zu einem gewissen
Grad trifft das für die meisten Performer zu andere Klamotten, neue Frisuren, alte Posen werden
abgelegt, doch einige der einflussreichsten und langlebigsten Stars vermitteln den Eindruck, dass jede Verwandlung
der äußeren Erscheinung einen Wandel der Identität widerspiegelt: dass sich der Künstler,
wie sein junges Publikum in einem Prozess permanenten psychologischen Experimentierens und Selbstentdeckens
befindet.
All Is Full of Love: Zauberwesen Björk.
Foto: Polydor
Poynor nennt das ein existenzielles Projekt. Seine Linie führt von David Bowie (Ziggy
Stardust) über Madonna zu Björk. Die Cyborgisierung Björks kommt für ihn in dem Video
zu All Is Full of Love auf zärtliche Weise zur Vollendung, wenn die vollautomatisierte,
aber immer noch ungemein seelenvolle Sängerin ihre lesbische Cyborg-Liebhaberin umarmt. Björk
ist hier zur Software geworden, zum Geist in der Medienmaschine. Verlassen wir den Cyberspace, kehren
wir zur Realität zurück. Wieder hat sie ihr musikalischer Weg über Umwege nach Deutschland geführt.
Schon ihre swingende Musical-Hommage Its Oh So Quiet war nach dem Krieg in Deutschland komponiert
worden als Jetzt ist es still. Und für ihr neues famoses Album Vespertine (Polydor)
lud sie nun den Münchner Techno-Musiker Martin Gretschmann alias Console ein.
Während der Dreharbeiten zu Lars von Triers Dancer in the Dark hatte sie sich in einen Console-Song
verliebt. Er hat mir geholfen und machte mich glücklich, erzählt sie, ich hatte
meine kleine Liebesaffäre mit dem Song ohne zu wissen, wer ihn gemacht hat. Er half mir beim Überleben
in dieser schwierigen Phase. Für ihre schauspielerische Leistung in dem Von-Trier-Musical erhielt
sie in Cannes den Preis als Beste Darstellerin und als Abfallprodukt entstand das exzellente Soundtrack-Album
Selmasongs.
Das Herz ist ein
einsamer Jäger
Von ihren anderen Kollaborateuren, den amerikanischen Electronica-Experten Matmos, schwärmt
sie: Ihre Musik ist nicht nur abstrakt, sondern sie hat auch viel Gefühl und Humor. Wir sind zuerst
mal fast ein Jahr lang um die Häuser gezogen, haben geredet, getrunken, solche Sachen, bevor wir ins Studio
gingen. Trotz allem Hang zum Cyberspace folgt die isländische Künstlerin in ihrem hidden
place immer wieder dem Ruf der Wildnis, wie sie in einem Interview mit einem ihrer Helden,
dem britischen Tierfilmer David Attenborough erklärt: Ich habe die romantische Vorstellung, dass
ich ein Tier bin; ich glaube nämlich nicht, dass sich die Menschen in irgendeiner Weise von den Tieren
unterscheiden. Björk sieht ihn und sich als Dolmetscher. Wenn David einen Stein
vom Boden aufhebt, findet er darunter ein ganzes Universum. Das gefällt mir. Ganz besonders mag ich seine
Art, Verhalten zu erklären, wonach unsere Haupttriebe Fressen und Sex sind.
In einem ihrer Videoclips, Hunter, verwandelt sie sich in einen Techno-Bären. Wieder geht
es dabei wie so oft bei Björk um den Aufeinanderprall von Technik und Natur. Hunter
könnte der Schlüssel sein zu Björks durch und durch (post-)moderner Auffassung als Künstlerin.
Noch einmal Rick Poynor: Das Video zeigt in unvergesslichen Bildern den inneren und äußeren
Kampf zwischen der realen Björk, die zu Echtzeit-Auftritten von authentischer Power fähig ist, und
der künstlichen Cyborg-Björk, deren Image mit Prothesen angereichert und durch Technologie und Design
vermittelt wird. Björk ist das erste Geschöpf des 21. Jahrhunderts, nicht ganz von dieser und
jener Welt, ein moderner Zwitter.