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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 37
50. Jahrgang | Oktober
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Relaunch
Man muss absolut modern sein! Das bilderstürmerische Motto der Avantgardisten-Ikone Rimbaud
wurde zum Leitmotiv der ästhetischen Bewegungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die vor allem eins
sein wollten: up to date, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Und selbst der vergleichsweise coole Bert
Brecht befand, dass man sich besser am schlechten Neuen als am guten Alten orientiere. Im Lande Pop verband
sich dann die Überbietungs- und Aktualitäts-Ästhetik noch mit den Gesetzen des Marktes, der nur
ein Regime zu kennen scheint: das der nouveauté. Nichts ist so alt wie die Neuheit von gestern:
das kann rasch zum Problem werden für die Helden und Herrscher der letzten Saison. Wer nicht einfach verschwinden
oder in engen Genre-Nischen überleben will, der muss sich etwas überlegen. Relaunch heißt
das Zauberwort post-moderner Ökonomie und PR-Kunst.
Lo-Fi war seit den späten 80er-Jahren eine der ästhetisch erfolgreichsten oder zumindest folgenreichsten
Indie-Strategien. Dem Produktions- und Werbe-Overkill wurde konsequenteste Reduktion entgegengesetzt: homerecording
sollte sich der Kontrolle entziehen und Unerhörtes zu Gehör bringen, die nackte Wahrheit
sollte zum Vorschein kommen, wenn man nur auf allen Schnickschnack verzichtete. Jetzt, ein gutes Jahrzehnt später,
ist zwar Lo-Fi nicht mehr Mode oder Jugendbewegung, aber erstaunlicherweise immer noch zu Überraschungen
und Innovationen fähig. Das gilt für Smog genauso wie für Will Oldhams diverse Palace-Projekte
und neuerdings für seine Kooperation etwa mit Johnny Cash. Auch Mark Linkous geht einen ähnlichen
Weg wie Oldham: den der Zusammenarbeit beziehungsweise der Freilegung bis dato verschütteter Zusammenhänge.
So singt auf dem dritten Sparklehorse-Album Its a wonderful life (bei EMI) zum
Beispiel B.P.J. Harvey, die selbst gerade, Björk vergleichbar, ihre experimentellen Erkundungen Mainstream-tauglich
gemacht hat und, auf Dog Door, Tom Waits, dessen Rain Dogs-Album für viele Lo-Fier
und besonders für Linkous eine Art Initiations-Erlebnis war. Dog Door ist kryptischer und sinistrer
Blues im klassischen Waitsschen Rumpel- und Röhr-Stil, nur vielleicht noch kruder durch Linkous
Vorliebe für seltsame Geräusche und eine geradezu abgründige Sanftheit. Die findet sich auch
auf Gold Day, seiner Kooperation mit der Cardigans-Sängerin Nina Persson, einem verstörenden
Lullaby der etwas anderen Art, wo vieles wie aus dem Unbewussten oder Nacht-Gespenstischen heraustönt.
Sehr viel rationaler und scheinbar entseelter klingt die neue CD von Richie Hawtin (DE9: Closer To The
Edit, bei Virgin/Mute), der seit mehr als einem Jahrzehnt der Maestro reduziertesten Detroiter Minimal-Technos
ist. Reduziert? Nur, was die Klarheit und Konsequenz der Konzepte und den scheinbar durchlaufenden Oberflächen-Flow
angeht. Produktionstechnisch und strukturell ist Hawtin mehr denn je von äußerstem Raffinement. Hundert
Samples hat Hawtin gesplittet und abgespeckt. Übrig geblieben sind 300 verschiedene Loops:
musikalische Miniaturen, die Hawtin nicht nur neu montierte (das haben längst andere vor ihm getan), sondern
auch durch De-Kontextualisierung, permanente Überschreibungen und Effekte so verklebte,
dass sie vollkommen anders gelesen werden müssen. Ein Meisterwerk des Relaunchs, das vorführt,
was an Neuem entstehen kann, wenn man die Entdeckungen des letzten Jahrzehnts, ja in gewisser Weise sogar den
Sound-Puzzle-Kosmos der Post-Moderne generell eindampft.
Auch Karl Francis alias Dillinja, die Legende des DrumnBass-Undergrounds der 90er-Jahre stand vor
dem Problem, wie er das (angebliche!) Ende dieses einst gehypeten Genres überleben sollte. Ihm half eine
Kenntnis der Bestände und die Bereitschaft, Tabu-los mit ihnen umzugehen. Sozialisiert wurde er im South
London der Endachtziger durch die Jazz-Sammlung seiner Mutter, später kamen dann Roots-HipHop und Elektro
hinzu, bevor er den warmen, tiefen Bass-Sound, wie er heute noch sagt, zu seiner Sache machte. Selbst
Goldie nannte ihn, ohne Einschränkungen, den Bass-Forscher der 90er-Jahre. Der Nach-Millenniums-Dillinja
sucht einen Ausweg aus der Krise durch Annäherung an die everlasting 70er-Jahre: die satten und heftigen
Sound-Architekturen auf Cybotron (bei WEA) sind, anders als Hawtins Sample-Labyrinthe, nicht entsentimentalisiert,
sondern suchen Body und Soul dort, wo sie am klischeehaftesten auftreten: in der Disco. Die vitale Macht verdankt
sich auf dieser neuesten Post-DrumnBass-Spielart den Wünschen und Sehnsüchten, die offenbar
dann besonders potent sind, wenn sie durch Vorbereitung schon Code beziehungsweise Bild geworden
sind.
Noch ein Relaunch, wenn auch der etwas anderen Art: Station 17, das Hamburger Projekt, das mit
Genie und Wahnsinn nicht nur spielt, sondern beide durch eine befreite, kollektive Praxis im (musikalischen)
Alltag zu entdämonisieren trachtet. Nach mehr als einem Jahrzehnt und vier musikalisch sehr unterschiedlichen
Alben, die von heftig improvisierendem Post-Jazzrock unter dem Einfluss Holger Czukays über groovenden
Krautrock-Underground (Spex) bis zu loopigen und frickeligen New Electronica-Experimenten
reichten, zieht Station 17 Bilanz: Hitparade (Mute/Virgin) ist aber kein schlichtes Best of-Album
und sehr viel mehr als die gerade modischen Remixe. Der Versuch nämlich, das ästhetisch auszureizen,
was immer schon Arbeitsgrundlage war: Kooperation; ein Zusammenkommen und Sich-Weiterentwickeln des Differenten.
Von Kreidler bis to rococo rot, von Thomas Fehlmann bis FM Einheit, von DJ Koze bis Steve Bug haben sich die
diversen Maestri der deutschen elektronischen Szene, die in den meisten Fälle auch alte Freunde der Station
17-Musiker sind, der alten Songs und Sounds angenommen. Und zumindest die Ich und Ich-Version
von denyo 77 hat, wie Marketing-Strategen sagen würden, Hit-Potenzial.