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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 22
50. Jahrgang | Oktober
Bücher
Einblicke in die Begrifflichkeit
Neue alte Musiklexika und -nachschlagewerke bei Bärenreiter
Joh.
Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothek, 1732; Bärenreiter
2001, Studienausgabe, 611 Seiten, 48 Mark Johann
Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, 1739; Bärenreiter 1999, Studienausgabe, 676 Seiten,
39,80 Mark Heinrich
Christoph Koch: Musikalisches Lexicon, 1802; Bärenreiter 2001, TB Faksimile Reprint, 936
Seiten, 78 Mark
Musiklexika und -nachschlagewerke in preiswerten Studienausgaben wer soll diese lesen? Sind sie nur
für Wissenschaftler, für Bibliotheken? Keineswegs! Die Brauchbarkeit für jeden interessierten
Musiker, ob Lehrender oder Studierender sei hier versucht darzustellen aus der Sicht nicht des Wissenschaftlers,
sondern eines wissensdurstigen Pädagogen, der in seinem Unterricht bemüht ist, insbesondere auf der
Grundlage des Notentextstudiums dessen Hintergründe, zeitliche Bedingtheit und Gepflogenheiten immer besser
zu verstehen und in der Interpretation zu realisieren.
Joh. Gottfried Walthers Musicalisches Lexicon von 1732, herausgegeben von Friederike Ramm, wurde
sinnvoller Weise in moderner Schrift und den heute üblichen Notenschlüsseln gedruckt, was die schnellere
Lesbarkeit merklich fördert. Was zeigt sich hier beim Lesen und Stöbern (denn durchlesen wird man
ein Lexikon schließlich nicht)?
Der Leser findet, wie in modernen Lexika, alphabetisch geordnet sowohl Fachbegriffe als auch Namen der seinerzeit
als wichtig erachteten Personen. Beide Kategorien sind, wenn auch oft erst auf den zweiten Blick, aufschlussreich,
erhält man doch Einblick in die Begrifflichkeit einer Zeit und die heute oft anders gewertete Auswahl
der damals als wichtig erachteten Persönlichkeiten.
Regungen fühlen
Sieht man nach unter Bach, findet man Johann Bernhard, Joh. Christoph, (geb.1669) und Joh. Sebastian,
von dessen Kompositionen seinerzeit lediglich die Clavier-Übung (Partiten) erwähnt ist
und auf deren schon damalige Hochschätzung hingewiesen wird. Das Wohltemperierte Klavier Bd. 1 von 1722
findet dagegen noch keine Erwähnung. Vielleicht sucht man den Begriff Agogik, bevor man sich
besinnt, dass dieser erst 1884 durch Riemann eingeführt wurde, forscht dann aber danach, ob sinngemäß
das Phänomen schon bekannt war, wird aber erst bei Mattheson 1739 fündig, der zwar nicht expressis
verbis, aber doch fast verschämt deren Existenz etwa folgendermaßen andeutet: man müsse
ein Stück nicht nur wohl nach seinen vorgeschriebenen Zeichen schlagen und halten, sondern auch die verschiedenen
Regungen fühlen, die das Stück ausgedrückt wissen will.
Überhaupt stellt es einen besonderen Reiz der Lektüre dar, bestimmte Begriffe vergleichend aus den
drei Werken aufzusuchen. Man erhält wichtigste Informationen nicht nur aus der Zeit, besser: aus den Zeiten,
sondern äußerst hilfreiche Aufschlüsse über die Veränderungen zwischen 1732 und 1802,
also Bachs und Beethovens Lebzeiten.
Mitunter vor Rätsel gestellt wird man von im Text original belassenen griechischen Wörter ohne deren
Übertragung in deutsche Schrift. Hier könnte eine Neuauflage sicher eine Verbesserung bringen, da
ohne Kenntnis der griechischen Schrift der betreffende Artikel nicht nutzbar ist.
Dem Namen nach am bekanntesten dürfte Johann Matthesons Vollkommener Capellmeister (1739) sein.
Ebenfalls in Neusatz von Text und Noten von Friederike Ramm herausgegeben ist dieses Werk nicht Lexikon sondern
klar gegliedertes Lehrwerk mit den drei Hauptteilen:
1. Von der wissenschaftlichen Betrachtung der zur völligen Ton-Lehre nöthigen Dinge, 2.
Von der wircklichen Verfertigung einer Melodie... 3. Von der Zusammensetzung verschiedener
Melodien, oder von der vollstimmigen Setz-Kunst...
Neben einer Fülle wissenswerter Grundlagen wie Intervalle, Stimmpflege, Klang-Füße, Zeit-Maasse
oder Verzierungspraxis erweisen sich kleine Polemiken bei Mattheson als durchaus informativ. Hier ein Exempel:
Las man bei Ph.E. Bach, dass man die Gefühle des Klavierspielers hören und sehen können solle,
liest man schmunzelnd bei Mattheson: Wenn ein Clavierspieler das Maul krümmet, die Stirne auf und
nieder ziehet, und sein Antlitz dermaassen verstellet, dass man die Kinder damit erschrecken mögte,
könne man keinen Zuhörer vergnügen (S. 94). Ob im ersten Teil das Wesen der Melodien, im zweiten
das zierliche Singen und Spielen, im dritten Tonsatzfragen abgehandelt werden, überall stecken
kleine bedeutende Informationen über das seinerzeit Gemeinte und Erstrebte.
Heinrich Christoph Kochs Musikalisches Lexikon von 1802 wurde im Reprint als Taschenbuch herausgegeben
von Nicole Schwindt. Da Koch schon die heutigen Schlüssel verwendete, können die Notenbeispiele trotzdem
gut gelesen werden. Das Auge gewöhnt sich relativ schnell an die alte Schrift, so dass auch dieses Werk
sofort nutzbar wird. Im Gegensatz zu Walther bringt Koch keine Personendaten. Nehmen wir in Fortsetzung unserer
Suche nach Agogik den Begriff Ritardando, stoßen wir sofort auf eine der heutigen
Ausführung widersprechende Ausführung: ... ist eine Art der Verzierung des Gesanges, wobey die
vorhergehenden melodischen Hauptnoten bis zum Anschlage der Harmonie der nachfolgenden zurückgehalten werden,
wodurch der Anschlag dieser Hauptnoten gegen die dabei zum Grunde liegende Harmonie verrückt wird.
Selbst die Definition von Tempo noch im Jahre 1802 überrascht: die Taktbewegung oder
das Zeitmaß. Spezieller das Tempo giusto, zum Beispiel bei Clementi fast zeitgleich
(1801 in seiner Klavierschule) genau in der Mitte seiner Temposkala zwischen Adagio und Prestissimo als konkrete
Tempoangabe verstanden, lautet anders: die rechte Bewegung, oder das rechte Zeitmaaß. Diese Überschrift
zeigt an, dass der Tonsetzer es dem Ausführer überlässt, das richtige Zeitmaaß des Tonstückes
nach seinem eigenen Gefühl zu bestimmen.
Appetitmacher
Die aufschlussreichen Zitate aus allen drei Werken könnten unendlich fortgesetzt werden. Vielleicht mag
diese kurze Beschreibung Appetit machen, sich mit jenen auseinander zu setzen. Persönlich darf ich anmerken,
dass mein eigener Nutzen und auch der Genuss deutlich sich vergrößerten, als ich nicht nur ein Werk
durchstöberte, sondern die genannten drei Werke vergleichend (auch mit zum Beispiel den bekannten Instrumentalschulen
von Ph.E. Bach, L. Mozart, Türk etc.) betrachtete. Eine dankenswerte Edition des Bärenreiter-Verlages,
welcher viele Leser insbesondere auch Musiklehrer und -studenten zu wünschen sind!