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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 3
50. Jahrgang | Oktober
Zukunftswerkstatt
Die Gemeinschaft, der Einzelne, Wettbewerb
50 Jahre ARD-Wettbewerb · Christoph Poppen neuer künstlerischer Leiter
Wenn etwas eine große Vergangenheit hat, dann steckt darin auch das Potenzial für eine große
Zukunft. Voraussetzung ist, dass die Zeichen der Zeit wahrgenommen werden, dass man bereit ist zu reagieren,
dass man dem bewährt Zurückliegenden nicht blind vertraut. Beim renommierten ARD-Wettbewerb, dem bedeutendsten
Musikwettbewerb in der Bundesrepublik, trifft vieles davon zu. Seit 50 Jahren wird er veranstaltet, nun hat
man mit Christoph Poppen einen neuen künstlerischen Leiter berufen, dessen künstlerische Wachheit,
dessen Verantwortungsbewusstsein, dessen Flexibilität eine neue erfolgreiche Ära einleiten könnte.
Leitet eine neue Ära ein: Christoph Poppen. Foto: Werner Neumeister
Einen Blick auf die Geschichte des ARD-Wettbewerbs muss man schon tun, um die außerordentliche Relevanz
zu begreifen. Und die Geschichte eines Wettbewerbs schreibt sich, man mag das begrüßen oder nicht,
in erster Linie über seine Preisträger. Ein paar Namen, eher willkürlich gepflückt, über
die ersten 25 Jahre hinweg: Peter Lukas Graf, Ingrid Haebler, Alfons und Aloys Kontarsky, Edith Peinemann, Franz
Lehrdorfer, Michael Ponti, Norman Shetler, Iwan Rebroff, Heinz Holliger, Christoph Eschenbach, Maurice André,
Simon Estes, Mitsuko Uchida, Jessey Norman, Tokyo String Quartet, Edgar Krapp, Pi-hsien Chen, James Tocco, Anthony
und Joseph Paratore, Yuri Baschmet, Antonio Meneses. Beruhigend ist, dass diese heute in der Musikwelt wohlvertrauten
Namen nicht immer ganz oben auf dem Podium des Preises standen. Manche davon erhielten nur den dritten Preis,
während der mit dem ersten Preis Ausgezeichnete nachher im Musikleben kaum Fuß fassen konnte. Aber
die Liste, die auch in den folgenden Jahren gleichermaßen das Niveau hält, muss beeindrucken. Ein
Gutteil der großen internationalen interpretatorischen Persönlichkeiten hat sich bei den ARD-Wettbewerben
die Klinke in die Hand gegeben. Und die Bedeutung der Preisträger ist zugleich eine Auszeichnung für
die Jurys, für ihre Zusammenstellung, für das organisatorische Umfeld.
Der Wettbewerb, der sich heute sicherlich ganz andere Aufgaben stellen muss als zum Zeitpunkt seiner
Gründung, soll zunehmend Zentrum der Begegnung werden für Musikerinnen und Musiker aus aller Welt,
die nicht nur während der kurzen Zeit des Wettkampfes, sondern darüber hinaus miteinander in Verbindung
treten sollen, um sich gegenseitig anzuregen und zu beflügeln, schrieb Poppen im Vorwort zum Geburtstags-Band.
Und wirklich müssen heute die Formen eines Musikwettbewerbs neu überdacht werden. Vieles ist hier
weltweit zur Routine abgewickelt, die Zahl der Wettbewerbe ist gewaltig gestiegen, sie haben oft die Funktion
des Durchlauferhitzers zwischen Studium und einem breiteren (oft aber nur kurzen) Wahrnehmen in der Öffentlichkeit.
Der inflationäre Anstieg der Wettbewerbe führte freilich längst dazu, dass im Gegenzug die Preisträger
abgewertet werden. Garant für eine große Musikkarriere konnten und wollten sie nie sein, inzwischen
ist die Woge der Preisträger bei einem sich eher verknappenden Markt so angewachsen, dass man den Eindruck
einer schnellen Entsorgung über ein, zwei Nachwuchskonzerte bekommt. Das gähnende Loch für manchen
Künstler danach steht nicht mehr im Verantwortungsbereich der Wettbewerbs-Maschinerie.
Aber so leicht sollte man es sich in Zukunft nicht machen. Die Veranstaltung eines Wettbewerbs hat auch moralische
Implikationen, man ist den Künstlern gegenüber verantwortlich. Natürlich kann es nicht der Weg
sein, dass die Ausgezeichneten gleichsam gehätschelt werden, dass sie vom Wettbewerb weg in ein Vermarktungsnetz
fallen, aus dem sie sich nicht mehr entwirren können. Solche Schritte können allenfalls flankierende
Maßnahmen sein. Viel wichtiger erscheint es, dass sich ein Wettbewerb den Verflechtungen von Vermarktungsstrukturen
entzieht, dass er für sich selbst stets den gegenwärtigen Kunstbegriff, seine Probleme, seine Potenzen
aufs Neue definiert und danach seine Struktur ausrichtet. Hier hat der Wettbewerb die Funktion von praxisnaher
Weiterbildung. In diesem Umfeld wäre es auch seine Aufgabe, den Konkurrenzdruck unter den Musikern zu mildern
und statt dessen die Kollegialität, das Miteinander zu fördern. Auch das Wahrnehmen und Berücksichtigen
von Individualität, die von den Nivellierungsaspekten mancher Wettbewerbe oft gefährdet beziehungsweise
auf profunde technische Bewältigung umgelenkt wurden, gilt es stärker in den Vordergrund zu rücken.
Ein Musikwettbewerb der Zukunft sollte also deutlich an einer eigenen Physiognomie arbeiten, er sollte Charakter
zeigen und nicht zum bloßen Stadion der Auseinandersetzung mit Messlatten, mit Regelbeobachtern verkommen.
Es darf angenommen werden, dass Christoph Poppen, dessen sensible Programmgestaltung beim Münchener Kammerorchester
immer wieder kreative und kommunikative Akzente setzt, dafür ein höchst geeigneter Mann ist. Beim
diesjährigen Wettbewerb war die Strukturierung freilich schon festgeschrieben. Poppen konnte auf den Verlauf
nur bedingt eingreifen, erst im nächsten Jahr werden seine Handschrift, vor allem auch das charakterisierende
Ambiente deutlicher zutage treten.
Einiges ist in Planung. So soll der Wettbewerb, der bekanntlich alle relevanten musikalischen Fächer einbezieht,
von fünf Kategorien (in diesem Jahr waren es Violine, Violoncello, Saxophon, Schlagzeug und Bläserquintett)
auf vier reduziert werden. Das hat nicht nur, nicht einmal in erster Linie organisatorische Gründe. Poppen
erwartet sich dadurch die Zeitspannen zwischen Wettbewerben der gleichen Kategorie werden ja größer
eine Hebung von Anspruch und Niveau, die letztlich dann auf den Status des ARD-Wettbewerbs zurück-
wirkt. Ein weiterer Neuerungsvorschlag, der schon diesmal praktiziert wurde, ist das Hinzuziehen des Münchener
Kammerorchesters, mit dem die Kandidaten ohne Dirigenten musizieren sollen ein Verfahren, das sich vor
allem für barocke und frühe klassische Werke anbietet. Idee ist es, die individuelle Interpretationsidee
des Teilnehmers noch deutlicher hervorzuarbeiten und zugleich dessen musikalisch-kommunikative Fähigkeiten
herauszufordern. Mit einer Arbeits- und einer Generalprobe stand dafür auch eine angemessen reichliche
Zeit zur Verfügung. Des Weiteren plant Poppen eine deutliche Aufwertung der zeitgenössischen Musik,
ab dem nächsten Jahr werden auch Kompositionsaufträge (vorerst an Reimann, Kagel, von Bose und Rihm)
für die einzelnen Fächer vergeben. Dafür freilich gälte es, die Probenzeiten vor allem des
BR-Symphonieorchesters auszubauen und darum will man auch kämpfen.
Freilich: Das sind noch keine unbedingt sensationellen Neuerungen. Poppen weiß, dass Umwertungen Behutsamkeit
brauchen, dass sie auch die Erfahrungen des Einlebens benötigen. Akzente der Bewegung aber werden gesetzt
und man darf es Poppen glauben, dass sie nicht sofort wieder zum Stillstand kommen wird. Dazu gehört auch,
dass für nächstes Jahr ein größeres Abschlussfest auch für die ausgeschiedenen Musiker
ins Auge gefasst wird. Man ist eine Gemeinschaft vielleicht lässt sich aus diesem Geiste heraus
am schlüssigsten ein Wettbewerb der Zukunft andenken.