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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 8
50. Jahrgang | November
www.beckmesser.de
Im Gehäuse
Die letzte Beckmesser-Kolumne, in der es um die möglichen Folgen der Anschläge vom 11. September
für die Kunstproduktion ging, inspirierte meinen Kollegen Gerhard Rohde in der gleichen Ausgabe der neuen
musikzeitung zu einigen besorgten Fragen: Ob die Beschwörung des tradierten Wertekanons nicht etwas zu
wohlfeil, zu diffus in der Begrifflichkeit und zu retrospektiv sei? Darauf möchte ich gerne antworten,
nicht weil ich mich im Besitz der richtigen Wahrheit fühle, sondern weil ich die angeschnittenen Fragen
etwas vertiefen möchte.
Die fragliche Passage lautete: Technischer Fortschritt, Experiment und Materialkritik sind keine autonomen
Größen. Verlieren sie ihren Bezug zum tradierten Wertekanon, so verliert das Kunstwerk seine gesellschaftliche
Verbindlichkeit. Zur Klonmusik ist es dann auch nicht mehr weit.
Bleiben wir erst einmal außerhalb des ästhetischen Bereichs, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Kein vernünftiger Zeitgenosse wird sich vermutlich begeistern über eine von ethischen Überlegungen
unbeschwerte Genforschung oder über den ungehemmten Ausbau der Atomkraftwerke. Der Punkt, wo etwa genetisches
Experimentieren mit dem überlieferten Wertekanon kollidiert, lässt sich heute ziemlich genau definieren.
Und wo es keine Verbote gibt und geben kann, hängt es vom Gewissen des einzelnen Forschers, Politikers,
Wirtschaftsführers ab, wie weit er zu gehen bereit ist. Ist demgegenüber die Kunst das Reich der Freiheit,
wo alles erlaubt ist? Kann hier, weil es sich ja um eine ungefährliche Domäne handelt,
zum Beispiel Massenmord zum genialen Kunstwerk verklärt und der Gedanke dadurch gerechtfertigt werden,
dass es sich ja nur um eine luziferische Fiktion handle? Das mag ein Extremfall sein. Doch allgemein darf man
fragen: Wo schlägt die große Freiheit des auf Tabuverletzung abonnierten Avantgardisten in die Verletzung
elementarer ethischer Normen um? Diese Normen mögen zwar seit grauen Vorzeiten gelten, doch ohne sie kann
das Zusammenleben der Menschen auch in einer modernen, säkularisierten Gesellschaft nicht funktionieren.
Natürlich darf man mit dem musikalischen Material alles machen, es kann sich ja nicht wehren. Und selbstverständlich
dürfen begeisterte Musikbastler jede noch so schräge und esoterische Versuchanordnung auf die Beine
stellen, so lange einige Leute daran ihren Spaß haben und die Festivals bereit sind, diesen Spaß
zu finanzieren. Auf der Wahrnehmungsebene mag das alles sehr interessant sein. Nur sollte auch das Nachdenken
darüber erlaubt sein, welche Ideen hinter diesen Experimenten stehen, wie sie sich im Kunstwerk artikulieren
und welchen geistigen Nutzen das Ganze für mich als Adressat im Sinne einer flüchtigen Erkenntnis
über meine Innen- und Außenwelt und vielleicht auch noch für andere haben könnte.
Wäre dieses Nachdenken eventuell eine Aufgabe der professionellen Kritik?
Auch eine andere Frage könnte an die neue Musik gestellt werden: Was ist das Neue, das sie sucht? Befindet
sie sich im Wettlauf mit der Werbebranche, die dank ihrer finanziellen Ausstattung im Produzieren von ästhetischen
Tagesnovitäten allemal flinker ist als die am Subventionstropf hängende E-Musik? Oder schafft sie
das Neue mit Hilfe der von der Speerspitze des Fortschritts, der Rüstungsindustrie, ausgemusterten Computergeneration
von vorgestern?
Oder müssen zur Erlangung des Gütesiegels Neu einfach die Stühle im Konzertsaal
einmal anders herum aufgestellt werden?
Der viel beschworene Begriff des Neuen, mit dem des Fortschritts eng verknüpft, wurde im Programmheft
der diesjährigen Donaueschinger Musiktage von Boris Groys, einem seiner fatalistischen Apologeten, gerade
wieder einmal in den Rang eines Fetischs erhoben. Als Medientheoretiker sieht er die Möglichkeiten eines
Neuen in der Musik vor allem in ihrer wechselnden Kontextualisierung und kommt zum Schluss: Daher ist
für mich die Popmusik auch viel fortschrittlicher als die so genannte E-Musik. Eine klare Aussage.
Die Frage ist nur, ob das mehr gegen die E-Musik oder gegen die Popmusik spricht.
In Zeiten, als Geschichtsbewusstsein für die Komponisten noch etwas Selbstverständliches war, bezog
sich das Neue auf konkrete historische Vorgaben, von denen es sich absetzte. Das ist noch bei einem der letzten
dieser Neuerer, Helmut Lachenmann, zu beobachten. Kaum ein Avantgardist der vergangenen Jahrzehnte Dieter
Schnebel vielleicht ausgenommen hat sich so unnachgiebig an der Tradition gerieben wie er. Ohne diesen
Traditionsbezug wären seine ganzen Klangexperimente leere Hülsen. Seine kritiklosen Adepten und andere
Virtuosen der Materialbehandlung meinen leider die Anstrengung nicht mehr machen zu müssen. So sind die
Festivalprogramme voll von brillanten Materialetüden, fleißig produziert von den vielen kleinen Czernys
der Avantgarde. Hinter der interessanten Klangoberfläche gähnt das Nichts, und im Saal
gähnt das Publikum.
Welche Werte verteidigen wir? fragte der Marburger Soziologe und MaxWeber-Forscher Dirk Kaesler
am 15. Oktober in der Tageszeitung Die Welt, und er kam zum Schluss, dass es im historischen Kern
zwei sehr verschiedene Zusammenhänge gebe: Das Christentum mit dem in der Bergpredigt formulierten Postulat
der Feindesliebe und die universell gültigen Menschenrechte. Er sah diese Werte im Widerspruch zum New
War und erinnerte an die Warnungen Max Webers vor einer Überbewertung der materiellen Güter.
Der siegreiche Kapitalismus, so Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts, habe ein stahlhartes Gehäuse
geschaffen, das eines Tages bewohnt sein könnte von Menschen, die ihre mechanisierte Versteinerung
nur noch mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämen könnten: Dann allerdings
könnte für den letzten Menschen dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden:
Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte
Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.
Doch wir schweifen ab. Mit neuer Musik hat das alles selbstverständlich überhaupt nichts zu tun.