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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 36
50. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Fiktive Sprechgesänge auf dem Weg zu Gott
Sidney Corbetts Oper Noach wurde in Bremen uraufgeführt
Kostüme und Spiel der Solisten führen ins asoziale Milieu. Immobilienhai Rispe ist des Nachts unterwegs,
Tatjana, die Prostituierte, spürt seinen Blick. Stein und Barbara ein Aussteigerpaar suchen
im Abrisshaus eine Bleibe für sich. Der letzte Bewohner ist alt; der Hauseigentümer, der sprengen
und neu bauen will, erhofft seinen baldigen Tod.
Der realistische Plot gewinnt an Gestalt, wenn sich der Alte unerwartet als jener biblische Noah ausgibt, den
Jahwe mit Bau und Kommando der Arche, also mit dem Überleben der Menschheit zu Zeiten der Sintflut betraut.
Zwei fiktive Intermedien, von Engels-Chören grundiert, belegen die Dispute Noahs mit Gott. Librettist Christoph
Hein, bekannt aus dem Kontext der DDR-Bürgerbewegung und bis zum vergangenen Jahr Präsident des gesamtdeutschen
PEN-Clubs, verweltlicht und polemisiert: Gott verflucht seine Schöpfung; Noah, hier Noach nennt
Gott einen Wahnsinnigen, der ihn zwingt, Zeuge einer Geschichte ewiger Schrecken, Kriege und Katastrophen zu
sein.
Fast prosaisch hat Hein die geschichts- und religionsphilosophischen Fragen mit der Alltags- und Gegenwartswelt
seiner neun Szenen verknüpft. Für ein Opernlibretto bleibt deren Sprache auffällig karg, poesiearm
und unartifiziell. Genau dies hatte Sydney Corbett, 1960 in Chicago geboren, beim Komponieren gereizt. Inspiriert
von den Opernversuchen Arnold Schönbergs, die er auf der Suche nach einer Gottes-Darstellung studierte,
hat der Amerikaner für Noach und die anderen Alltagsfiguren einen melodramatischen Sprechgesang gewählt,
der expressive und ariose Gesten enthält. Archaisch wirken dagegen die A-cappella-Chöre der Engel;
als polyphones Terzett von Knabensopran, Bass und hohem Sopran erklingt die widersprüchliche Stimme des
Herrn.
Vermittelt sich das Figurengeschehen des Stücks traditionell über Stimmen und Text, so korrespondiert
die philosophische Ebene mit einem instrumentalen Geschehen, das der Oper ihren besonderen Klang und Charakter
verleiht. Unüberhörbar ist die Nähe zum Tonalen, die jedoch mehrdeutig bleibt und der die harmonische
Festlegung fehlt. Instrumente wie Gong, Steeldrum, Akkordeon und Harfe sehr differenziert und klangschön
verwendet suggerieren einen kontemplativen, partiell asiatischen Klang, dem ein wiederkehrender, einfacher
rhythmischer Puls zu Grunde zu liegen scheint.
Unter seinem ersten Kapellmeister Graham Jackson bewältigt das Philharmonische Staatsorchester Bremen
die schwierige Partitur sensibel und differenziert. Rosamund Gilmores Inszenierung nimmt allerdings nur
auf das Libretto Bezug. Die zarte kontemplative Kammermusik, die expressiven Melodramen finden szenisch keine
Entsprechung. In Alltagskostümen wird derb-realistisch gespielt und Carl Friedrich Oberles leere, abstrakte
Bühne füllt sich nurmehr, wenn der Chor aufmarschiert. Katharina von Bülow, Loren Lang, Ina Schlingensiepen
oder Karsten Küsters singen ihren Part souverän, bleiben jedoch szenisch-gestisch harmlos und undifferenziert.
Allein die umfangreiche Titelpartie wirkt durchgearbeitet und interpretiert: Clemens-C. Löschmann gibt
einen sehr behutsam agierenden, keineswegs gebrechlichen jüdischen Denker.
Die eher rabiaten Gegenwartsszenen um Barbara und ihren Freund Stein, Tatjana und Rispe rücken das Immobiliengewerbe
und die Prostitution in eine beachtliche Nähe. Das Vegetieren aller Figuren am Rand der Gesellschaft weckt
in Noach eigene Sehnsüchte auf. Ein einziges Mal wagt Regisseurin Gilmore hier einen eigenen Einwurf: Als
nämlich Immobilienbesitzer Rispe, auf dem Straßenstrich unterwegs, den greisen Noach versehentlich
totschlägt da ist es plötzlich nicht mehr Gottes Befehl, sondern Barbaras zögernde Liebe,
die den Alten zum Schaden des Immobilienbetriebs für die nächste Ewigkeit wieder zum Leben bewegt.