[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 47
50. Jahrgang | November
Dossier: Popmusik
Ein subversives Netzwerk im Untergrund
nmz-Gespräch mit Philip Boa über seine Karriere und die Zukunft der Pop-Musik
Vielleicht verkörpert kein anderer so exemplarisch das Schicksal der Pop-Musik in Deutschland seit Mitte
der 80er-Jahre wie Philip Boa: ein Gespräch über himmelstürmende Karrieren, jähe Katastrophen,
notwendige Einsamkeit und die Lust auf Kooperation.
Aller Anfang ist groß. Zumindest in der britischen Pop-Presse, deren Spezialität das permanente
Ausrufen neuer Trends und die totale Vergesslichkeit ist: Seit langer, langer Zeit habe ich keine Pop-Musik
mehr gehört, die so kraftvoll und subversiv ist. Das schrieb Mick Mercer im Melody Maker.
Und Andy Gill vom Konkurrenz-Blatt NME sekundierte pflichtschuldigst, um nur ja nichts zu verpassen: Ein
Sound, wie ich ihn noch nie gehört habe.
Tauchte mit einem neuen Album aus selbst gewähltem Abseits wieder
an die Oberfläche der Pop-Welt: Philip Boa. Fotos: RCA/BMG
Was wird da beschrieben? Die Anfänge der Beatles, der Stones oder zumindest der Sex Pistols? Nein, das
Debüt einer deutschen Band: Philistrines von Philip Boa und seinem Voodoo Club. Das war Mitte
der 80er- Jahre. C-86 war gerade das große Ding, womit ein Jahrgang genauso beschrieben wurde
wie eine Aufnahme- und Vertriebstechnik, die sich der Kontrolle der großen Konzerne entzog.
Ein neuer Sommer der Liebe im Zeichen großer, orgiastischer und damals noch gitarrenbestimmter Raves
stand bevor. Philip Boa war ein junger Mann, der nach der Devise wir wollen alles und zwar sofort
gleich zwei Karrieren startete: die eine als Komponist und Sänger, die andere als Label-Boss. In seiner
Erinnerung sieht das so aus: Wir haben unser erstes Album auf Red Flame veröffentlicht; das war damals
ein renommiertes britisches Label; wir dachten transnational. Und Boa Constrictor? Ja. Das war unser
eigenes Label. Keine Firma, um das große Geld zu machen. Eher ein Unternehmen, das die Musik, die wir
selber hören wollten und die schwer zu bekommen war, zugänglich machen sollte. Und das Programm?
Kein explizites Programm. Schräges Indie-Zeug im Wesentlichen. Sachen, die in der SPEX diskutiert
und gut besprochen wurden. Schon damals war das zentrale Motiv die Idee einer Kollektivität,
wie Boa es heute nennt, die Vorstellung, Teil einer Bewegung zu sein, zusammen mit anderen Musikern groß
zu werden und nicht gegen sie. Dieses nicht gegeneinander bestimmt seine Arbeit bis heute. Es kehrt
im nmz-Gespräch anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Albums The Red wie ein
Mantra wieder: an die Stelle der Konkurrenz soll die Kooperation treten. Nicht der Kampf um die knappen Kuchenkrümel
bestimmt das Denken und Handeln, sondern gewissermaßen das Backen des Kuchens. Nicht die Verteilung oder
der Konsum von Reichtum, sondern seine Herstellung: das kulturelle Kapital soll sich den üblichen Kreisläufen
entziehen.
In vielem erinnert die Karriere des Underground-Gurus Philip Boa, der halb wider Willen zum Pop-Star mutierte,
an das Schicksal Kurt Cobains nur dass Boas Boom nicht in der Katastrophe, sondern im mutwilligen Abseits
endete. Aber wie der Charismatiker Cobain, so kam auch der Charismatiker Boa nur schlecht mit seinem Erfolg,
mit der Vorbild- und Stellvertreter-Funktion, mit der neuen Verantwortung zurecht: Es wurde zu schnell
zu groß. Es waren Entscheidungen zu treffen, die mich überforderten; die ich vielleicht auch gar
nicht wollte. Auch Cobain wollte sich nach dem Mega-Seller Nevermind in den unkonsumierbaren
Lärm flüchten: so schräg sein, dass die Idee der Gefolgschaft scheitern muss. Boa, der beinahe
schon im Pop-Olymp angekommen war, machte aus dem Voodoo-Club ein Metal-Projekt: Das war sogar für
die Hardcore-Fans schwierig. Und, vielleicht mit einem leichten Bedauern: Davon habe ich mich bis
heute nicht erholt.
Malteser Exil
Es folgten der Rückzug, die Verweigerung, das Malteser Exil. Das ist das eine, dunkle, weltabgewandte
Gesicht Boas. Das andere ist das kooperationsbereite, ja oft sogar -süchtige. Wenn er nicht schon ein wenig
zu alt dafür und die Rolle längst anderweitig besetzt wäre, würde er vermutlich singen:
Ich will Teil einer Jugendbewegung sein.
So sucht er, der immer und heute mehr denn je Songwriter sein und eine Songwriter-Band haben möchte, den
Anschluss an die avanciertesten Technologien und Verarbeitungsformen: Remix heißt die Devise. Ein Netzwerk
der Schöpfer kann so entstehen, wo jeder an den Ideen des anderen weiterarbeitet.
70 Boa-Remixe gibt es mittlerweile, irgendwann, das ist derzeit vielleicht Boas größter Traum, soll
ein Tripel-Album erscheinen. Auf den Beitrag von Aphex Twin ist er unüberhörbar besonders stolz. Und
sonst, die anderen Kooperationen? Selbst die Pop-Autorin Sibylle Berg (Sex II) ist ja auf seinem
neuen Album zu hören: Das ist natürlich auch immer Zufall. Ich habe nach einer deutschen Stimme
gesucht, aus dem Alltag. Ich selbst kann nicht deutsch schreiben oder singen. Sibylle Berg habe ich bei einem
Interview für Die ZEIT kennen gelernt.
Sie selbst hat eine Zeit lang bei ihren Lesungen Boa-Musik aufgelegt. So kam das zustande.
Auch ansonsten ist das Remix- und Kooperations-Modell natürlich zufallsoffen. Kontingenz erzeugt Kreativität.
Boa: Am besten gefallen mir oft die Bearbeitungen, in denen die Vorgabe, also der Song, scheinbar vollkommen
ignoriert wird; wo etwas radikal Neues, Anderes entsteht. Aber selbstverständlich fordert jede Interpretation,
jeder Bearbeitungsvorgang den Autor und Komponisten heraus. Er lernt dabei, wird selbst ein anderer.
Boa zwischen Song und Sound. Für ihn kein Gegensatz. Denn auch als Komponist ist für ihn der Groove
entscheidend. Dass man sich bei seinem neuen Album kaum ruhig halten kann, ist für ihn das größte
Kompliment.
Abstraktion und Reduktion
Dabei liebt er die Abstraktion und Reduktion. Schneider TM geht dabei, auf dem Intro des Albums, vielleicht
am weitesten. Aber bei ihm bleibt ja auch noch der synthetischste Klang immer ganz und gar physisch: ein osmotischer
Vorgang, ein durchdringendes Ereignis.
Auf The Red das Cover zitiert den vor kurzem verstorbenen britischen Abstrakten Victor
Pasmore gibt es die Zusammenarbeit mit Kreidler, Stella und Notwist, also der nächsten Generation,
und, besonders explizit, mit dem Miles-Sänger Tobias Kuhn. Kooperation, kein Konkurrentismus, lautet Boas
Devise. Was in den 80ern schon Arbeitsweise und Programm seines Labels Boa Constrictor bestimmte, kehrt jetzt
etwas verändert wieder. Nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches Projekt. Zusammenhang
und Zusammenhalt in den Zeiten des Neoliberalismus und seiner nichtakademischen Realität: des Raubtier-Kapitalismus.