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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 48
50. Jahrgang | November
Dossier: Popmusik
Das Rauschen auf dem Grund des Meeres
Roman oder Remix: Thomas Meineckes Techno-Recherche Hellblau verstört die Kritiker
Nichts ist so alt, so abgetan wie der letzte Schrei der Vor-Saison: Die Pop-Literatur, eben noch die Zukunft
des Buches, wird anno 2001 mit viel Spott und Häme auf dem Schrottplatz der Geschichte entsorgt. Pop ist
wieder zum Synonym für Wegwerf-Ware geworden. Thomas Meinecke aber, der eine Weile nolens volens auf dem
marktgängigen Ticket reiste, wird bleiben, wenn die neuesten Darlings längst wieder vergessen sind...
Foto: Eva Leitolf
Pop-Literatur hieß eine Zeit lang einfach: freches Feuilleton von jungen Leuten, die an ihrem Leben und
an ihren Meinungen entlangschreiben, ohne groß nachzudenken. Unverschämtheiten für den raschen
Konsum, mit einer Lust an amoralischer Kälte der jeweiligen Software der Wahl anvertraut. Dandyismus in
Zeiten des Weltbürgerkriegs. Wer schön war und sich kräftig fühlte, meinte auf Rücksichtnahme
und andere Umständlichkeiten verzichten zu können.
In diesem Sinn war Thomas Meinecke nie Pop. Denn Meinecke ist eher zurückhaltend; in seinem persönlichen
Auftreten forciert p.c.: nie frech, selten frivol; ein Forscher, kein Poser. Ansonsten aber war
er natürlich mehr Pop als all die Trittbrettfahrer: seit mehr als zwei Jahrzehnten Chef von FSK, der vielleicht
wichtigsten bundesdeutschen Pop-Band, heftig verehrter Zündfunk-Moderator und charismatischer
DJ. Und ein passionierter Reisender und Rechercheur im Niemandsland der Geschichte, dort wo Identitäten
zerbröseln, ineinander übergehen oder frisch geschaffen werden. Seine Suhrkamp-Trilogie (The
Church of John F. Kennedy, Tomboy und jetzt Hellblau) beschäftigt sich auf
witzige Weise mit der sozialen Konstruktion von Zuschreibungen aller Art: nationalen, sexuellen, ethnischen.
Dabei ist Meinecke weniger Begriffs-Fantast (wie all die Post-Strukturalisten und Gender-Theoretiker) als vielmehr
akribischer Beobachter: ein kritischer Positivist der kleinsten Abweichungen und ein Spurensucher der zweiten
Chance, der alternativen Möglichkeit, die noch in der festgeschriebensten Geschichte erscheint, sofern
nur der eigene Blick nicht längst versteinert ist.
Für Tomboy, dieser Tour de force durchs Grenzland der Geschlechterrollen und durch die Sub-Kulturen
mit ihren wechselnden Kleiderordnungen, wurde Meinecke viel gerühmt. Das Buch verkaufte sich bestens. Auf
Hellblau dagegen reagieren viele Kritiker ratlos. Ist das überhaupt (noch) ein Roman
diese Frage kehrt stereotyp wieder oder handelt es sich eher um einen Zettelkasten, ein Fundbüro
und einen virtuosen Diskurs, der sich ein paar Personen und Reste von Handlung eher erschwindelt? Ist Meinecke
ein Autor und nicht eher ein DJ, der jetzt an Texten exekutiert, was er gewohnt ist: Mix und Remix; nicht
ein Erzählen, sondern ein Scratchen von Geschichte? Der Vorwurf ist verständlich, denn
dieses neue Meinecke-Buch ist sehr radikal und äußerst konsequent, und doch vollkommen falsch. Jeder
Roman, der heute noch eine Naivität und Autorität voraussetzt, die es längst nicht mehr gibt,
ist Lüge oder, ein wenig vornehmer, Ideologie. Das Faszinierende an Meineckes Buch ist gerade, dass es,
übrigens den besten Traditionen der klassischen Moderne folgend, die Grenzen von Begriff und Bild, Diskurs
und Story, strenger Form und wucherndem Material aufhebt oder zumindest verflüssigt.
Hellblau lehrt das Abtauchen, so ein fiktiver, im Text selbst durchdiskutierter Romantitel.
Meinecke macht, wie schon in seinen früheren Büchern, misstrauisch gegen die falschen Selbstgewissheiten.
Er zeigt, wie in den kleinsten Details entsteht und zusammenhängt, was uns im Großen dann nur noch
massiv, fordernd, oft auch stumm machend begegnet.
Meinecke bleibt stets ein Aufklärer: freilich nicht einer der pompösen Deklarationen, sondern der
sich verästelnden Genealogien, die zeigen, dass fixe Identitäten eine Fiktion sind. Hellblau
ist ein funkelndes Pamphlet gegen die Gehirnwäsche; eine Farbenlehre, die einen schwindlig machen kann:
Ist Mariah Carey am Ende eine Schwarze und wenn nicht, warum nicht? Wie kann ein Grieche, Johnny Otis, zum Neger
werden, ohne dass das weiter auffällt? Wurde Amerika tatsächlich von den Europäern entdeckt,
oder ist es von seinen Ursprüngen her so schwarz wie (vielleicht) das alte Israel und das noch ältere
Ägypten? Was machen deutsche U-Boote vor der amerikanischen Ostküste und Kohl und Reagan auf dem Bitburger
Soldatenfriedhof? Und vor allem: wo und wie entsteht Pop, schon zur Zeit der letzten Jahrhundertwende? Wie heftig
haben da Juden und Schwarze kooperiert und warum mussten sie sich später trennen und bekämpfen?
Warum hat jede Frau einen Juden? Und warum war es Männern ein Problem, wenn sie mit diesem Juden spielten?
Den Generalbass des Buches aber bildet Meineckes faszinierende Recherche im Patchwork-Universum des Techno,
in dem es anscheinend keine Subjekte und keine Geschichten, dafür aber eine mächtige, sich in immer
neuen Varianten verkörpernde Struktur gibt. Und das Grundmotiv des Buches findet Meinecke, Hubert Fichtes
Geschichte der Empfindlichkeit, diesem großen Forschungsbericht jenseits aller Identitäten und Zuschreibungen
folgend, in einem Vers des Empedokles: Einst bin ich ein Knabe, ich bin auch ein Mädchen gewesen,
Busch und Vogel und Fisch, der warm aus den Wassern emporschnellt. Das geheime Gesetz von Meineckes Prosa
ist das uralte der Verwandlung.