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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 52
50. Jahrgang | November
Dossier: Popmusik
Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt
Bettina Greves opulentes Polydor-Familienalbum
Was haben all diese Schlager aus einem Dreivierteljahrhundert gemeinsam? Ausgerechnet Bananen,
Wenn ich sonntags in mein Kino geh, Capri Fischer, Heimweh, Ganz
in Weiß, Fußball ist unser Leben und Verdammt, ich lieb dich.
Es sind allesamt Bestseller der 1924 gegründeten Polydor. Bettina Greve, zuständig für
die Online-Aktivitäten der Firma, hat nun eine erste Chronik dieser deutschen Schallplattenmarke vorgelegt.
Und sie hat damit eine Lücke geschlossen. Während es im anglo-amerikanischen Raum längst Usus
ist, die Geschichte legendärer Labels wie Motown, Atlantic oder Chess aufzuarbeiten, betritt Greve hier
(fast) Neuland.
Freddy Quinn im Aufnahmestudio bei Polydor. Foto: Polydor
Das Tonträgergeschäft ist extrem schnelllebig. Schmerzlich vermisst man bei den meisten Mitarbeitern
der Medienmultis so etwas wie Geschichtsbewusstsein. Umso erfreulicher ist Greves Polydor-Story,
die gewissermaßen als Abfallprodukt entstanden ist: Als die Deutsche Grammophon 1998 ihren 100.
Geburtstag feierte, strahlte dieses Jubiläum auch ein wenig auf Polydor ab. Einige Journalisten interessierten
sich offenbar nicht allein für die traditions- und prestigereiche Klassik-Marke, sondern auch für
die Popmusik-Aktivitäten des Hauses. Diese Pressevertreter wurden damals aus der gemeinsamen PolyGram-Telefonzentrale
zu Polydor vermittelt, ihre Fragen und die positive Resonanz auf einen kurzen in Polydors Pressedienst veröffentlichten
Abriss zur Geschichte des Pop-Labels gaben den Anstoß zu dieser Chronik.
Plötzlich war das Gedächtnis der oft längst ausrangierten Kollegen wieder gefragt,
denn so wurde Greve bewusst viele Geschichten rund um unsere alte Schallplattenmarke sind
nicht auf Papier, sondern nur in den Köpfen der Künstler oder der Mitarbeiter auch der ehemaligen
archiviert. Und so ist ihr Buch ein liebevolles Familienalbum geworden, das so nebenbei auch die
Geschichte der Tonträger im 20. Jahrhundert illustriert: von den 78er-Schellackscheiben über die Langspielplatten
bis zur Compact Disc. Besonders lesenswert sind dabei die ersten Kapitel über Emil Berliner und die Anfänge
der Polydor bis zur Machtergreifung.
Ich hab zu Haus ein Grammophon hieß es in den Roaring Twenties und aus dem Trichter
erklangen die Couplets von Otto Reutter, Max Hansen und Claire Waldoff. In den Dreißigern folgten Marlene
Dietrichs in Paris aufgenommenes Chanson Allein in einer großen Stadt und die großen
Ufa-Tonfilmschlager. Nach dem Krieg tanzte man wieder Polka. Bill Ramsey besang bei Polydor 1958
sogar einen Wumba-Tumba-Schokoladeneisverkäufer von nem andern Stern. Da ging es bei
der Firma noch patriarchalisch zu, wie sich Ramsey erinnert: Es wurden damals nicht nur Produkte verkauft,
sondern Künstler gefördert, promotet und auf sie aufgepasst. Es war ein wärmeres, geborgeneres
Gefühl als heute. Die wenigsten Künstler hatten ja ein eigenes Management. Ich auch nicht, aber ich
wusste, dass ich immer bei meiner Plattenfirma anrufen konnte, um Tipps oder Hilfe zu bekommen.
Anfang der Sixties gaben sogar die zukünftigen Beatles als Begleitband von Tony Sheridan ein Gastspiel.
My Bonnie fiel Brian Epstein in die Hände, und sofort übernahm er das Management der Beatles.
Er bat den Produzenten Bert Kaempfert, die Gruppe aus dem Polydor-Vertrag zu entlassen. Kaempferts
Antwort: Das sind nette, begabte Jungs, ich will ihnen keinen Stein in den Weg legen. Das Label
setzte weiter auf Freddy, Gus Backus, Peter Kraus und Roy Black. Bis Mitte der 60er Dank des Beat Clubs
auch bei uns der Siegeszug der britischen Rockmusik begann und Polydor das Repertoire des britischen
Schwesterlabels auswertete: Jimi Hendrix, The Who, Cream und The Bee Gees. In den 70ern verband man das rote
Logo vor allem mit einem Namen: ABBA. Danach profitierte die Firma von der Neuen Deutschen Welle und dem Musical-Boom
(Cats). Wie sang Barry Ryan einst: Zeit macht nur vor dem Teufel halt.
Viktor Rotthaler
Bettina
Greve: Sternenhimmel. Die Chronik einer deutschen Schallplattenmarke, Hannibal, Höfen 2001. Unter
dem Titel Sinfonie der Sterne ist bei Bear Family Records eine dazugehörige 8-CD-Box (mit
Buch und DVD) erschienen.