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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 48
50. Jahrgang | November
Dossier: Popmusik
Die Binnenverhältnisse dieser Welt
Thomas Steinfeld untersucht die Rolle der Rock- und Pop-Musik
Thomas Steinfeld: Riff. Tonspuren des Lebens, DuMont, Köln 2000, 274 Seiten, 38 Mark
Erinnerung ist ein höchst beweglicher Vorgang, nur dem vorschnellen Urteil erscheint sie als Faktenbesitz.
Wo es um Lebensgeschichten geht und um Erinnerung in der 1. Person, wird die Lage noch komplizierter. Denn hier
bricht sich das Kontinuum des Lebens an den unterschiedlichen Perspektiven, die im Lauf der Jahre die Sicht
formierten. Der Gegenstand des Erinnerns fügt sich zusammen aus der gelebten Erfahrung und einem stets
neu vergegenwärtigenden Blick.
Thomas Steinfeld erinnert in seinem Buch Riff an die Pop- und Rockmusik der 60er- und 70er-Jahre.
Mit einem poetisch collagierenden Verfahren sichert er Tonspuren des Lebens. Gleichzeitig entwirft
er eine Landkarte der Gegenwartskultur. Das Augenmerk gilt einem unmerklich Übergroßen die
populäre Kultur gleicht einer geografischen Bezeichnung, die nicht gesehen wird, weil sie mit ihren Lettern
die ganze Landkarte überzieht.
Steinfeld kartografiert ein Terrain, das spätestens seit Peter Handkes Versuch über die Jukebox
in entspannter Weise begehbar ist. Die Arbeit des Erinnerns, des Neusehens und -hörens ist über jene
Art der Entgegensetzung hinaus, die sich der eigenen popmusikalischen Sozialisation zu entziehen versucht. Auch
geht es nicht mehr um den Zwischenschritt einer ironischen Wiederannäherung, die in einem Spiel der Ambivalenzen
mündet. Weder Adorno noch der ironische Jugendbericht stehen Pate, wenn Steinfeld sich dem seit dreißig,
vierzig Jahren gültigen Repertoire einer neuen Volksmusik zuwendet, für das die Bezeichnung Oldies
schon wieder aus der Mode ist. Eleanor Rigby oder Satisfaction sind zu Hymnen
des Lebens geworden, in ihnen speichert sich die Erfahrung einer Generation. Ja, die heute Sechzigjährigen
entstammen schon mehr oder weniger der Welt des RocknRoll.
Steinfeld, Feuilletonist und ehemaliger Rockmusiker, untersucht mit einem stupenden Fachwissen die Binnenverhältnisse
dieser Welt. So fragt er nach dem Zusammenhang zwischen der regulierbaren Eingangsempfindlichkeit von Verstärkern
und der Differenzierung des Elektrobassspiels bei Jaco Pastorius.
Und er weiß, ab welchem Zeitraum der Spieler einer Fender-Jaguar-Gitarre selbst in Gymnasiastenbands
als nicht mehr satisfaktionsfähig galt. Wie ein Brennspiegel der neuen musikalischen Weltkultur erscheinen
bei Steinfeld die Riffs, wobei es nicht um Meeresuntiefen, sondern um die für den Rock charakteristische
Verschiebung von der Melodie zum Rhythmus geht. Die akkordische Gitarrenfigur in Smoke on the Water
von Deep Purple liefert das prägnanteste Beispiel für hunderttausende von Freizeitgitarristen
das erste und letzte Wort auf dem Instrument.
Vor allem geht es Steinfeld aber um die Rolle der Rock- und Popmusik im Kontext der Gesamtentwicklung der
Kultur und Lebenswelt. Die einzelnen Kapitel des Buches versammeln die musikalischen Elemente und setzen sie
in Bezug zu den unterschiedlichsten Entwicklungen: Gilles Deleuze und Andy Wahrhol liefern dabei ebenso Anhaltspunkte
wie Michelangelo Antonioni oder Wim Wenders. Besonderes Gewicht legt Steinfeld auf Querbezüge zur Literatur:
Marcel Proust, Albert Camus oder Uwe Johnson tauchen ebenso auf wie Michelle Houllebecq oder Rainald Goetz.
Die besondere Attraktivität des Buches liegt nicht zuletzt darin, dass die beschreibende Dichte und der
Collagencharakter nicht zu Lasten der Lesbarkeit gehen, ja, es entsteht ein fast lyrischer Gesamteindruck
der an einigen Stellen allerdings von sperrig eingearbeiteten Übersetzungen englischer Textpartien unterlaufen
wird.
Sachliche Probleme ergeben sich dort, wo Steinfeld in seinem Versuch, der Populärkultur jenseits von
Verteufelung oder Ironisierung gerecht zu werden, zu nachhaltig mit überkommenen Kritikfiguren bricht.
Dass Adorno in Sachen Populärkultur oft danebenlag, steht inzwischen außer Frage doch nicht
selten irrte er in die richtige Richtung. So trifft seine Kritik der Kulturindustrie nach wie vor viele der
in diesem Feld bestimmenden Faktoren. Auch geht Steinfelds These von der Hitparade als einer Übung in direkter
Demokratie an den Determinanten entsprechender Veranstaltungen wohl vorbei. Treffender wäre es, der wenig
romantischen Serialisierung des Geschmacks, die hier stattfindet, nachzugehen. Sartre hat Entsprechendes sehr
früh schon an diesem Phänomen aufgezeigt.
Thomas Steinfeld erfasst in seinem Buch Konstellationen, in denen die Reichweite und die ungebrochene Kraft
der Pop- und Rockmusik deutlich wird.
Es ist die Kultur, in der die meisten Zeitgenossen fraglos zu Hause sind. Der Autor betreibt ein Stück
Archäologie im Dienst der Jetztzeit, wobei sich die gelebte Erfahrung auf überraschend neue Weise
erschließt.