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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 8
50. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Frühlingsgefühle beim Warschauer Herbst
Symposion zur Rolle der Musik des 21. Jahrhunderts beim Warschauer Festival
Über Jahrzehnte war das 1956 gegründete Festival zeitgenössischer Musik Warschauer Herbst
die maßgebliche Adresse im damaligen Ostblock. Da konnte man hören, was anderswo als bourgeoiser
Formalismus verpönt war. Die Polen mit ihren Speerspitzen Lutoslawski, Penderecki, Serocki oder Baird hatten
sich einen Freiraum erkämpft, von dem man in anderen östlichen Ländern nicht einmal zu träumen
wagte.
Theo Geißler (nmz) und Tadeusz Wielecki (Programmdirektor des Warschauer
Herbstes) während des Warschauer Symposions. Foto: Tadeusz Rolke
Und wenn man die Liste der aufgeführten Werke durchsieht, dann staunt man. Nono, Boulez, Ligeti, Stockhausen
oder Cage waren schon Ende der 50er-Jahre in Warschau keine Unbekannten mehr, im Westen Spätentdeckte wie
etwa György Kurtág schlugen dort schon weit früher feste Bastionen auf. Ästhetische Restriktionen
gab es nicht und das breite Interesse stand somit beinahe mit im Pachtvertrag. Die kommunistische Regierung
bezahlte, was nicht nur Feigenblatt, sondern auch Demonstration nationaler Eigenständigkeit war. Dieser
Zustand hielt an bis zur Wende, danach wurde manches anders. Das erkämpfte Paradies ästhetischer Freizügigkeit
bekam auf einmal Konkurrenz zu spüren, mehr noch die Zwänge des so genannten freien Marktes, der der
Kunst bekanntlich neue Grenzen setzt: die der vorgeblich öffentlichen Akzeptanz. Es wurde stiller um den
Warschauer Herbst.
Auf den ersten Blick war es schon etwas seltsam, wie sich das Festival in diesem Jahr präsentierte. Wo
kommt es schon vor, dass sich der Leiter im Vorwort zum Programmbuch über die Schwierigkeit seines Amtes
beklagt, dass er von Rücksichtnahmen spricht, während westliche Festivalleiter einzig dem eigenen
Geschmack verpflichtet seien (Being a dictator is nice and comfortable...)? Der Programmdirektor
Tadeusz Wielecki tat es, fast stimmte er einen Klagegesang an, dessen bitterste Töne wohl zwischen den
Zeilen verborgen waren. Der Staat finanziert noch immer maßgeblich den Warschauer Herbst, aber er verlangt,
dass der mit mehr als zwanzig Konzerten ausladende zeitgenössische Tummelplatz auch Staat macht, zumindest
schillernd Flagge zeigt. Zudem gibt es im tiefkatholischen Polen auf kompositorischem Gebiet ein stark konservatives
Lager. Henryk Górecki, dessen untergründige dritte Sinfonie einst die englischen Charts eroberte,
Krzysztof Penderecki, Pawel Szymanski oder auch der 50-jährige Erfolgsspätromantiker Eugeniusz Knapik
stehen dafür. Bei der Uraufführung von dessen einstündiger Lied-Tondichtung Up into the
Silence durch das nationale polnische Rundfunkorchester unter Gabriel Chmura musste manch verdutzter Zuhörer
Standortbestimmung treiben. Es klang wie ein Werk, das vielleicht Debussy wegen dramaturgischer Längen
einst ad acta legte.
Pluralismus heißt der polnische Ausweg: Man gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist und ertrotzt sich dadurch
Freiräume für Experimentelles.
Wielecki schrieb salomonisch: Für die, denen Schönberg grundlegender Wertmaßstab bleibt.
Das war ein Hieb gegen die postromantischen Tendenzen, die freilich auf der anderen Seite auch Publikumsschichten
in die Konzerte führen, die sonst ausblieben. Und wirklich, der Andrang ist nach wie vor groß, die
meisten Veranstaltungen, auch in der Philharmonie oder im fast erschreckend großen Witold-Lutoslawski-Studio
im Rundfunk, waren ausverkauft. Wielecki baute vorsorglich noch ein zweites Standbein ein: Extrem Experimentelles
sollte so dargeboten werden, dass es für die Medien attraktiv ist. So gab es zum Beispiel im letzten Jahr
Stockhausens Gruppen in einem Stadion, heuer setzte man unter anderem auf ein Multi-Media-Musiktheaterprojekt
des Holländers Martijn Padding Tattoed Tongues, der zudem tags zuvor schon im großen,
beängstigend gefüllten Jazzgot Club mit der hart geradlinigen, mit Jazzphrasen durchsetzten Komposition
Speculum Inversum durch das Amsterdamer LOOS-Ensemble spartenübergreifend eingeführt
wurde. Es ist die Schule des großen Anarcho-Taoisten Louis Andriessen, die in diesem Konzert, verstellt
zwischen Jazz, Minimalismus und avantgardistischen Strukturtechniken, unter Anwesenheit des Meisters vorgestellt
wurde.
Der Warschauer Herbst boomt also immer noch, und davon profitierte auch das Konzert des Ensembles United
Berlin unter Peter Hirsch, das mit Arbeiten von Mathias Spahlinger, Jakob Ullmann und Hanspeter Kyburz
durchaus sperrigere Kost bot. Pluralismus, dieses Wort scheint in Polen wirklich ernst genommen zu werden. In
der Unsicherheit, wie es ästhetisch aber auch politisch weitergehen soll, bewahrt man sich das Wichtigste:
Offenheit gegenüber allen Ansätzen.
Dieses Konzert hatte der Deutsche Musikrat mitgebracht, der damit hellhörig auf neue Tendenzen, neue
Strukturen in Polen reagierte. Polen ist nun auch EU-Kandidat, mehrere EU-Länder gehen bereits auf Werbe-Tour.
Nun hat sich auch ein polnischer Musikrat konstituiert und der Präsident des deutschen Bruderverbandes
Franz Müller-Heuser will demnächst beim internationalen Treffen in Japan dessen Aufnahme in den weltweiten
Dachverband unterstützen. Die nun beim Warschauer Herbst initiierte Zusammenarbeit soll ausgedehnt werden.
Dazu begann man mit einem Symposion mit dem Titel Die Rolle der Musik des 21. Jahrhunderts, das
der blutjunge polnische (Präsident ist der Generaldirektor der Nationalphilharmonie Warschau Kazimierz
Kord) und der altehrwürdige deutsche Musikrat veranstalteten. Das europäische Musikleben wird sich
in den kommenden Jahrzehnten auf spürbare Art vernetzen, nationale Barrieren werden abgebaut werden. Man
darf erwarten, dass dem auf organisatorischer Ebene massiv Rechnung getragen werden wird. Und je früher
hierfür Schritte unternommen werden, desto wirksamer und erfolgreicher werden die Maßnahmen sein:
zum Nutzen des europäischen Musiklebens. In zirka 20 Kurzreferaten, anmoderiert von nmz-Chefredakteur Theo
Geißler und von Janusz Cisek, dem Vizedirektor für Zusammenarbeit mit dem Ausland im polnischen Ministerium
für Kultur und Nationales Erbe, wurden jeweils von beiden Seiten Rahmenbedingungen musikalischer Aktivitäten
abgesteckt. Man sprach über die mediale Betreuung der Musik (u.a. Gerti Peters, Mitarbeiterin des Beauftragten
der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, Krzysztof Knittel von der Vereinigung
polnischer Komponisten, Andrzej Chlopecki von der Programmkommission Warschauer Herbst und Rainer
Pöllmann vom Deutschlandradio), über die staatlichen und privaten Fördermaßnahmen (Uli
Kostenbader von Daimler Chrysler, Iwona Ryniewicz von der Kronenbergstiftung und Michael Rossnagl von der Siemens
Kulturstiftung) bis hin etwa zu Fragen der bilateralen Zusammenarbeit (Eckart Rohlfs über Perspektiven
der europäischen Musikwettbewerbe), der europäischen Integration oder zum Urheberrecht (Reinhold Kreile
von der GEMA, Edward Pallasz von der Gesellschaft ZAIKS oder der polnische Berater für Urheberschutz im
Kultusministerium Jan Bleszynski).
Es war ein erster Austausch, ein Forum des Kennenlernens. Den Veranstaltern war es gelungen, zu allen relevanten
Fragen der Musik maßgebliche Vertreter sowohl aus Deutschland als auch aus Polen zusammenzubringen. Klar
wurde, dass in Polen viel Organisatorisches noch in den Anfangsschuhen steckt, dass man von dieser Seite darum
besonders die Erfahrungen anderer Länder sucht.
Aber auch die deutschen Vertreter profitierten. Denn die Herausforderung, die eigenen vielleicht schon ein-
oder abgeschliffenen Gedanken auf neuer Basis zu prüfen, auch darüber nachzudenken, welche Anfangshürden
zu umschiffen wären, stellte sich als fruchtbar heraus. Freilich kann solche Zusammenarbeit nur gedeihen,
wenn sie auf freier und gleichberechtigter Ebene geschieht. Zu spüren war seitens der polnischen Vertreter
durchaus Vorsicht gegenüber Vereinnahmung oder schnell aufgedrängte Rezepturen. Aber erste Barrieren
in dieser Hinsicht wurden erfolgreich genommen.