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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 1
50. Jahrgang | November
Leitartikel
Jugend fangen ?
In den Vereinigten Staaten sind, wie man gerade lesen konnte, einige der renommierten Sinfonieorchester existenziell,
sprich: ökonomisch bedroht, darunter angeblich sogar das traditionsreiche Ensemble in Chicago. Auch bei
uns klagen schon manche Orchester: Natürlich über fehlendes Geld, aber auch über ein überaltertes
Stammpublikum, das allmählich wegstirbt, ohne dass sich junge Menschen um die frei gewordenen Abo-Plätze
balgen würden. Was tun?
Publikumsnachwuchs gleichsam züchten, am besten nur für das eigene Haus. So jedenfalls lesen sich
die Pläne, die sich der Berliner Philharmoniker-Intendant Franz Xaver Ohnesorg gemeinsam mit dem unvermeidlichen
Dauer-Mäzen Alberto Vilar für sein Berliner Institut ausgedacht hat: Hundert Millionen Mark für
ein Jugendförderprogramm, mit dem das Publikum von morgen und übermorgen herangezogen werden soll.
Sorgfältig vorbereiten möchte man das Unternehmen Jugend fangen, Modellcharakter ist gefragt,
nicht nur Peter und der Wolf oder der Karneval der Tiere.
Im Hintergrund und gleichsam als Parallelentwicklung vollzieht sich in Berlin (und natürlich auch an anderen
Orten, besonders in Nordrhein-Westfalen siehe Seite 30 dieser Ausgabe) das Gegenteil zu den oben geschilderten
Plänen: der zum Teil radikale und immer rücksichtsloser betriebene Abbau der Ausbildungsplätze
an den deutschen Musikschulen. Zehntausend Musikschulplätze sind in den vergangenen sechs Jahren vernichtet
worden so drastisch drückt es der Vorstand des Landesverbandes der bezirklichen Musikschulen Berlins
in einem offenen Brief an den Berliner Senat aus.
Der Auf- und Ausbau des deutschen Musikschulsystems, in den 60er-Jahren begonnen, darf zu den wichtigsten
Kulturleistungen, und nicht nur für das Musikleben Deutschlands, zählen. In den Musikschulen lernten
Kinder und Jugendliche Musik am besten kennen: Indem man sie sich selbst bereitete an den verschiedensten
Instrumenten, singend, solo oder, wichtiger und auch pädagogisch wertvoll, in der Gruppe drang man
intensiv in die Werke der Komponisten ein, intensiver als das Nur-Hören es gestattet.
Wir wollen dem Vorhaben von Ohnesorg und Vilar nicht die edle Absicht absprechen, doch wird man den Verdacht
nicht los, dass hier wieder einmal ein Hochglanzprojekt auf Hochglanzpapier in die medienwirksame Szene gesetzt
werden soll. Das Ärgste aber wird sein, dass der Berliner Senat (und mit ihm alle Senate und Gremien in
unseren Städten und Ländern) dem Projekt vor allem deshalb zujubeln wird, weil es sie selbst nichts
kostet. Und das Gewissen entlas-tet, wenn man weitere Musikschulplätze vernichtet.
Ein Skandal? Leider kaum noch. Nur trüber Alltag in vernebelten politischen Köpfen.