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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 22
50. Jahrgang | November
Bücher
Ein Totenschein für die Zwölftontechnik
Manuel Gervink schlägt in Sachen Schönberg die Tür hinter sich zu
Manuel
Gervink: Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber-Verlag 2000, ISBN 3-921518-88-1, 399 S., 24. Abb.,
DM 78,
Wozu noch Biografien? fragte keck der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus in einer seiner brillanten
Glossen für die Neue Zeitschrift für Musik Mitte der 70er-Jahre. Die Biografik sei zu
einer musikwissenschaftlich peripheren Disziplin abgesunken, lautete sein düsteres Fazit. Indes war die
Produktion von Biografien über allgemeine historische Persönlichkeiten nach eher mageren vorangegangenen
Jahrzehnten bereits wieder in vollem Gang. Es gebe ein merkwürdige[s] Interesse an Biografien,
wurde in der Zeitschrift für Kultur und Politik (Nr. 5, 1977) festgestellt. Golo Manns Wallenstein
(1971), Joachim Fests Hitler (1973) oder Lothar GalIs Bismarck. Der weiße Revolutionär
(1980) sind nur die markantesten Beispiele jener Zeit. Die Komponisten-Biografie wurde mit Wolfgang Hildesheimers
Mozart (1977) und Martin Gregor-Dellins Richard Wagner (1980) ebenfalls wieder in Schwung
gebracht. Dahlhaus Feststellung war daher keine grame Schlussfolgerung, sondern eine Aufforderung, gesicherte
Fakten mit dem eigenen Erkenntnisinteresse im hermeneutischen Zirkel in Beziehung zu setzen. Die mittlerweile
wieder ziemlich in Schwung gekommene musikwissenschaftliche Biografik hat gezeigt: Der Mensch und sein künstlerisches
Handeln lassen sich nicht in ihre sozialgeschichtlichen Teilaspekte restlos auflösen, wie es der Bildungsbürger
Dahlhaus damals angesichts des Soziologiebooms in den reformierten deutschen Hochschulen befürchtete.
Alles andere als das Individuum bis zu seinem Verschwinden zu differenzieren hat der Kölner Musikwissenschaftler
Manuel Gervink mit seiner Biografie Arnold Schönbergs (Laaber-Verlag) im Sinn, beschritt dabei eine Gratwanderung
zwischen subjektivem Urteil und historischer Bedeutung des Komponisten. Nichts weniger als Schönbergs Werk
an dem Anspruch zu messen, den er selbst gestellt hat ist Gervinks Anliegen, so weiß es der
Klappentext.
Um dahinter zu kommen gliedert Gervink Schönbergs Leben nach dessen künstlerischer Entwicklung in
sechs große Kapitel. Der Anfang titelt einleuchtend mit Schönberg und Strauß. Strauß
vermittelte dem Komponisten Stipendien und Arbeitsmöglichkeiten, beriet ihn in ästhetischen ebenso
wie in Fragen des Musikbetriebs und machte Schönberg auf Maeterlincks Drama Pelléas und Mélisande
aufmerksam. Natürlich geht es in diesem ersten Kapitel auch um das Streichsextett Verklärte
Nacht, dem wohl markantesten Beispiel für Schönbergs frühe Meisterschaft und satztechnischen
Bezug auf Brahms und Wagner. Schon hier betont Gervink Schönbergs Ringen um den später so wichtig
und zentral werdenden musikalischen Gedanken. Ohnehin werden Schönbergs kompositorische Anfänge
ausführlich geschildert. Besonders die Zähigkeit und Widerstandskraft Schönbergs angesichts der
ungeliebten Banklehre wird betont. Alexander von Zemlinsky war Schönberg indes mehr Gesprächspartner
und Freund als Kompositionslehrer und wurde wenig später dessen Schwager. Ein frühes, gültiges
Charakterbild des autodidaktischen Komponisten gelingt Gervink hier sehr anschaulich.
Im zentralen vierten Kapitel Musik und Geschichte verhandelt Gervink sehr engagiert Schönbergs
Weg zur Zwölftontechnik aus der Perspektive des Komponisten und rekonstruiert damit gleichermaßen
die kompositionsgeschichtlichen, historischen wie auch persönlichen Gegebenheiten um 1920. Deren Bedingungen
weiß Gervink geschickt aufeinander zu beziehen, um daraus die fast schon unzeitgemäß klingende
Kategorie der Werkintention herauszuschälen. So stellt der Autor letztlich das Artefakt ins Zentrum der
Betrachtung ohne jedoch die allgemeine Biografik als bloßen Zubringerdienst zu behandeln. Die bei Künstlerbiografien
zunächst offene Kluft zwischen allgemeiner Entwicklung und Musikgeschichte wird vom Autor über das
Bindeglied der Poetik trefflich überbrückt. So ist die Frage nach der Machart des Werks auch eine
Frage nach sinnvollem menschlichen Handeln.
Dabei geht es Gervink gar nicht darum, einen anderen Schönberg zu präsentieren, als den, den man schon
kennt. Schönberg ist und bleibt derjenige Komponist, der mit seiner 1911 erschienenen Harmonielehre die
Dur-Moll-Tonalität theoretisch ausgemessen hat und kurz vor seinem 50. Geburtstag 1924 die Zwölftontechnik
öffentlich machte, um sich in den Folgejahren an ihren Möglichkeiten wie auch Einschränkungen
abzuarbeiten.
Die daraus resultierenden Formprobleme und Fragen der Ästhetik hat Adorno in seiner Philosophie
der Neuen Musik (Tübingen 1949) wohl als einer der ersten Theoretiker trefflich behandelt, Schönberg
darin als den am Versöhnungsgedanken im Kunstwerk gescheiterten und darum für das 20. Jahrhundert
um so wahreren Komponisten dargestellt.
Schönberg ein Scheitern am eigenen Anspruch nachzuweisen hat indes Gervink im Sinn und handelt sich damit
den Ruch des Ressentiments gegen die Moderne ein, was ob seiner klugen Reflexionen vollkommen unnötig gewesen
wäre. In seinen flüssig zu lesenden Werkbetrachtungen kommt er immer wieder auf Schönbergs Ringen
um die Einheitlichkeit des musikalischen Gedankens zurück, den er zum Schlüsselbegriff für das
Verständnis von Schönbergs Musik zu Recht erhebt. Als wichtigstes Beispiel für den Wunsch nach
einer ebenso ästhetischen wie satztechnischen Übereinstimmung dient ihm das um 1920 entstandene Oratorium
Die Jakobsleiter. Biblischer wie kompositionstechnischer Bezug äußert sich hier bereits
im Titel. Am sprachlich gar nicht restlos auflösbaren Begriff des musikalischen Gedankens beschreibt Gervink
sehr ausführlich die wohl spannendste und bedeutendste Phase in Schönbergs Komponieren, nämlich
den Übergang von der freien Tonalität in die Zwölftonmusik, wofür die Jakobsleiter
letztlich steht. Die Kategorie des musikalischen Gedankens ist die Vermittlungsinstanz zwischen den kaum
vereinbar erscheinenden Merkmalen von Zwölftontechnik und musikalischer Komposition (S. 254),
resümiert Gervink und stellt damit Schönbergs Ewigkeitsästhetik vom Kopf auf die Füße.
Die klang beim Komponisten seinerzeit so: Das Werkzeug selber mag außer Gebrauch kommen, aber der
Gedanke dahinter kann niemals veralten.
Dann wetzt Gervink die Messer, wenn er über folgenden Satz Schönbergs nachsinnt: Die Methode,
mit zwölf Tönen zu komponieren, erwuchs aus einer Notwendigkeit. Dem widerspricht der Wissenschaftler
Gervink vehement und es verfestigt sich ab da der Eindruck, dass sich der Autor letztlich auf den Beweis dieses
Widerspruchs versteift. Der Übergang von der freien Tonalität zur gebundenen Zwölftontechnik
sei durchaus nicht notwendig gewesen, um den musikalischen Gedanken zu ermöglichen, meint Gervink. Und
an anderer Stelle heißt es: Schönbergs Übergang von der erweiterten Tonalität zur
Atonalität und weiter von der Atonalität zur Zwölftontechnik waren weder geschichtliche noch
satztechnische Notwendigkeiten, [...] sie waren vielmehr jeweils ein willkürlicher künstlerischer
Akt. (S. 259) Damit wäre immerhin der Kreis vom menschlichen Handeln zur Ästhetik wieder geschlossen
und man fragt sich, woher Gervinks Groll rührt. Denn dagegen, dass auch künstlerische Entscheidungen
vom Menschen gemacht werden, welche Zwänge vom Material ausgehen mögen oder wie stark einer Inspirationsästhetik
nachgehangen wird, kann eigentlich niemand etwas haben.
Gervink jedoch deutet mit dem Begriff Willkür das makabre Fazit seines Schönberg-Buchs
hier bereits sehr deutlich an. Am Ende nämlich schreibt er der Zwölftontechnik den Totenschein aus,
noch bevor sie erprobt werden konnte. Als totgeborenes Kind (S. 351) wird die Zwölftontechnik
abgetan. Gervink meint damit, dass das zur Norm erhobene Regelwerk kompositorisch kein Entwicklungspotenzial
bereit gehalten habe: Daran sei Schönberg gescheitert. Gerade aber die formalen und satztechnischen Probleme
der Zwölftontechnik waren es, die neue Wege zeigten und mit Verlaub so etwas wie musikalischen
Fortschritt möglich machten, ganz egal ob der Komponist seinen Anspruch einlösen konnte oder nicht,
und ganz egal, ob von geschichtlicher Notwendigkeit gesprochen werden sollte oder nicht. Hier fehlen dem Autoren
plötzlich Distanz und Übersicht. Statt einem Ausblick ins Offene werden Mauern errichtet. Aus Schönbergs
Perspektive hat es tatsächlich einer sein müssen, wie er selbst seine ungeliebte Rolle
als Zwölftöner definierte. Am unbestreitbar geschichtsträchtigen Punkt fast schon vollzogener
Chromatisierung der Tonsprache ging er durch die freie Tonalität (leider verwendet Gervink das Paradoxon
Atonalität) hindurch und schuf ein neues Bezugssystem, um kompositorisch verbindlich zu bleiben
eigentlich ein sehr konservatives Trachten.
Gervink aber rennt nach doch ziemlich engagiertem und dezidiertem Nachspüren von Schönbergs oft widersprüchlichem
Leben und Werk bereits offene Türen ein, schlägt sie hinter sich zu. Mag es auch noch so rhetorisch
zum Zwecke der Diskussionsanregung gemeint sein: Die drastische Fundamentalkritik wirft auf seine oft erhellenden
Überlegungen rückwirkend einen Schatten.
Mögen den Autor Schönbergs zahllos irgendwohin gekritzelte Überheblichkeiten während langer
Archivséancen gewurmt haben und mögen diese sich vor ihm zum unausstehlichen Schreckgespenst summiert
haben: Einen großen Teil der Musik des 20. Jahrhunderts mitsamt eines ihrer Protagonisten dem Missverständnis
zu überlassen und gewissermaßen als Geschichtsirrtum hinzustellen, wirft die Frage auf: Wozu diese
Biografie? Soviel ist gewiss: Schönberg est mort. (Pierre Boulez)