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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 22
50. Jahrgang | November
Bücher
Einblicke in prä- und postnatale Entwicklungen
Vorträge und Workshops rund um das Thema Musik und Menschen mit Behinderung
Merkt,
Irmgard (Hg.): Ein Lied für Christina (InTakt Dortmunder Schriftenreihe Musik und Menschen mit Behinderung
Bd. 1, hrsg. von I. Merkt), ConBrio-Verlag, Regensburg 2000
InTakt
ist eine bundesweite Weiterbildungsveranstaltung an der Universität
Dortmund, die sich in einem Zwei-Jahres-Rhythmus mit dem Themenkreis
Musik und Menschen mit Behinderung befasst. Der hier
vorliegende Band fasst die Vorträge und einige Workshops der
ersten Tagung aus dem Jahr 1998 zusammen. Was die Autorinnen und
Autoren über ihre Beiträge hinaus verbindet, ist ein
spezieller Blick auf Menschen mit Behinderungen (S. 9), der
geprägt ist von einem praktischen Engagement in der Arbeit
und Weiterbildung mit behinderten und nichtbehinderten Kindern.
In ihrem ersten Beitrag AufTakt äußert sich Merkt zum theoretischen Bezugsrahmen, der
der konkreten praktischen Arbeit zu Grunde liegt. Dazu gehört in erster Linie ein Verständnis darüber,
was man als Behinderung bezeichnet. Merkt folgt hier dem Ansatz Cloerkes (Cloerkes, G.: Soziologie der Behinderten-
Eine Einführung, Heidelberg 1997), der in Anlehnung an eine Formulierung der WHO aus dem Jahre 1980 drei
Ebenen der Behinderung unterscheidet. Auf Grund einer Schädigung des Organismus (Ebene 1) kommt es zu einer
Störung in der Entfaltung der Persönlichkeit (Ebene 2), die eine Benachteiligung auf der sozialen
Ebene (Ebene 3) zur Folge hat.
Behinderung wird also letztlich als gesellschaftliches Produkt verstanden. Ein Behinderter, so
Cloerkes, ist ein Mensch, der erstens eine entschieden negativ bewertete Andersartigkeit hat und der deshalb
zweitens ungünstige soziale Reaktionen auf sich zieht. Musik nun kann einen Beitrag dazu leisten,
den Menschen mit Schädigung auf der personalen Ebene in seiner Entwicklung zu unterstützen (S.
10), das heißt einen Beitrag leisten zur Entfaltung der Persönlichkeit. Darüber hinaus geht
es aber auch darum, über die gleichberechtigte Teilhabe an der Musik-Kultur die oben angesprochene soziale
Benachteiligung zumindest zu mindern, das heißt es geht um Integration und um Unterstützung bei der
Entwicklung der kulturellen Vorliebe, hier der Musik. In diesem Zusammenhang wird bewusst auf den Therapie-Begriff
zu Gunsten der Betonung des Pädagogik-Begriffs verzichtet.
In ihrem zweiten Beitrag Ein Lied für Christina gibt Merkt einen kurzen, aber sehr einfühlsamen
Einblick in die prä- und postnatale Entwicklung eines Menschen, deren Weg sie mit den Begriffen Lauthülle,
Lautspiegel und Lautgestaltung umschreibt. Was bei nichtbehinderten Kindern als normale Entwicklung
vor sich geht, bedarf im Fall eines behinderten Kindes intensiver Begleitung und damit ständiger Selbst-Reflexion
des Begleiters. Der Weg hier lautet: eine Lauthülle schaffen, Lautspiegelung geben und Lautgestaltung ermöglichen.
Ziel ist eine Verführung zur Musik durch Musik und eine Förderung der Lebensfreude mit Musik.
Die in Franz Amrheins Beitrag angesprochene Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsförderung
mit Musik stellt für ihn selbst den Grundriss eines Konzepts Musik mit Menschen mit Behinderungen
dar (Amrhein 2000, S. 25). Das Konzept, das sich als Weiterentwicklung und Konkretisierung der von Werner Probst
vor etwa 30 Jahren entwickelten Pädagogischen Musiktherapie versteht und das auf Erfahrungen der letzten
20 Jahre aufbaut, gliedert sich in fünf Schritte. In einem ersten Schritt, den Amrhein subjektive
und objektive Realität nennt, geht es sowohl um die Erschließung musikalischer Fähigkeiten
und Bedürfnisse der Schüler (subjektive Seite) als auch um den Aspekt der musikalischen Förderung
(objektive Seite). Grundgedanke ist ein so genannter Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik weg
von der Defizitorientierung hin zur Betonung der Entwicklungs- und Fördermöglichkeiten und
ein Wandel in der Sichtweise der Musikpädagogik, den Schüler erst zu sich selbst, dann in die musikalische
Kultur (ein-) zu führen. Dieser Weg, und das ist der zweite Schritt, führt über die Sensomotorik,
als Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung, als Grundlage für Fühlen und Denken und
als Grundlage musikalischer Förderung und musikalischen Lernens. Der dritte Schritt beschreibt nun das
eigentliche Ziel, nämlich die im Titel schon erwähnte Förderung der Bewegungs-, Wahrnehmungs-,
Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit.
Die Förderung der oben angesprochenen Fähigkeiten vollzieht sich mit Hilfe der Stimme und verschiedener
Musikinstrumente, wobei dem Orff-Instrumentarium, lateinamerikanischen und afrikanischen Perkussionsinstrumenten
große Bedeutung beigemessen wird. Zu berücksichtigen in der Arbeit sind die Kategorien Körperlichkeit,
Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck. Als methodische Prinzipien in der Arbeit sind die Bewegung, die Wiederholung
und die Stimulierungsstrukturierung zu berücksichtigen. Eine Schlüsselrolle in diesem Gesamtprozess
kommt dem Lehrer zu. Seine Aufgabe ist es, inhaltliche und methodische Prinzipien unter Berücksichtigung
der momentanen Situation und der Entwicklungsmöglichkeiten, -fähigkeiten und -wünschen des Schülers
zu dessen Wohl miteinander zu verbinden.
Während sich Amrheins Beitrag auf das pädagogische Feld Schule bezieht, stellt Werner Probst Musik
mit Behinderten an Musikschulen in den Mittelpunkt seines Beitrags. Diese Arbeit stellt allerdings ein
Kooperationsfeld zwischen Sonderschule und Musikschule dar. Die Musikschule, so Probst, ist der geeignete
Ort für die Unterweisung in musikalischer Tätigkeit über den [...] allgemeinen Musikunterricht
hinaus, denn sie hat die Möglichkeiten zur instrumentalen Ausbildung auf einer Vielzahl von
Instrumenten, zum Ensemblespiel und zu einer musikalischen Frühförderung oder Grundausbildung.
So wie die Musikschule der geeignete Vermittlungsort ist, so sind die Musikschullehrer die geeigneten Vermittler,
wenn sie um die so genannten sonderpädagogischen Prinzipien (ebd.): wissen: kleine Schritte,
Anschaulichkeit, das Prinzip der Wiederholung, Zurücknahme sprachlicher Instruktionen, Tendenz zur abnehmenden
Hilfe und zunehmende Selbstständigkeit. Diese in zweijährigen Kursen in Remscheid zu vermitteln, ist
seit nunmehr über 20 Jahren das Anliegen von Werner Probst und seinen Mitarbeitern.
Ort der Vermittlung sonderpädagogischer Prinzipien, die letztlich nicht nur die sonder-, sondern die
gesamte pädagogische Arbeit beeinflussen (sollen), ist die Akademie Remscheid, deren Direktor Max Fuchs
sich im folgenden Beitrag zur Kulturarbeit mit behinderten Menschen äußert (S. 55 ff). Als zentrale
Begriffe erscheinen für mich die der kulturellen Bildung und der Lebenskunst, die,
so Fuchs, eben nicht nur von kultur-, sondern auch von (sonder-)pädagogischer Relevanz sind. Auf sehr persönliche
Erfahrungen und Einsichten fußend setzt sich Frederik Vahle mit dem Zusammenhang von Sprache und Bewegung
auseinander. Wie auch schon bei Fuchs überwiegen hier anthropologisch, philosophisch, psychologisch und
pädagogisch akzentuierte Gedankengänge. Im Anschluss an die bisher eher theoretisch gehaltenen Beiträge,
die für sich genommen eine Grundlage für den Bereich Musik in der Sonderpädagogik bieten und
durchaus auch den Grenzbereich zur Regelpädagogik bilden, folgen nun vier Beiträge, die von der theoretischen
auf die praktische Ebene reflektieren.
In dem ersten Beitrag Die Hand, die mag das Streicheln zeigt Irmgard Merkt sehr schön, wie
theoretisch angeeignetes Gedankengut das (musik)pädagogisch-therapeutische Handeln des Pädagogen beeinflussen
kann und zu sensiblen (Re-)Aktionen und Reflexionen führt.
Während es sich im Beitrag von Merkt um die musikpädagogisch-therapeutische Arbeit mit einer Schülerin
dreht, berichten Björn Tischler und Ruth Moroder-Tischler in ihrem Beitrag über die Arbeit mit einer
Integrationsklasse. Ausgangspunkt sind zunehmende Wahrnehmungsstörungen und daraus resultierende (schulische)
Probleme, denen mit einem ganzheitlich-erlebnisorientierten, handlungs- und themenzentrierten Musikunterricht
begegnet werden kann.
Angelika Neuse-Schneider geht in ihrem Beitrag auf Anfangsübungen für frisch zusammengewürfelte
Gruppen ein. Ihr Ziel ist es, möglichst rasch ein gemeinsames Musiziererlebnis zu schaffen. Dabei ist es
erst einmal unerheblich, ob es sich dabei um behinderte oder nichtbehinderte Menschen handelt. Wesentlich ist
die Orientierung der Übungen und Spielideen an den jeweiligen individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer.
Die Einheit von Musik und Bewegung (Tanz) herauszustellen bildet den zentralen Aspekt des Beitrags von Eva Krebber-Münch.
Neben theoretischen Betrachtungen spielt natürlich auch hier die Reflexion auf die Praxis Erwachsene
und Schulkinder eine wesentliche Rolle. Eine kleine Einführung in die Theorie und Praxis jiddischer
Lieder und Tänze gibt Aaron Eckstaedt. Besonders hervorzuheben ist sein ausführliches Literatur- und
Tonträgerverzeichnis.
Dieser Band ist der erste der Schriftenreihe Musik und Menschen mit Behinderung. Merkt greift hier eine Tradition
auf, wie es sie schon einmal mit den Dortmunder Beiträgen zur Musik in der Sonderpädagogik
gab. Dies ist außerordentlich positiv zu bewerten. Dieser Band ist mir sehr wichtig. Es ist gut, von Zeit
zu Zeit über die theoretischen Fundamente der eigenen Praxis nachzudenken und es ist ebenfalls gut, Ideen
und Gedanken aus der Praxis für die Praxis zu bekommen.