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nmz-archiv
nmz 2001/11 | Seite 17
50. Jahrgang | November
Rezensionen
Mal heiter, mal trocken
Alfred Brendel zum 70. Geburtstag
Nicht erst seit dem runden Geburtstag steht fest: Alfred Brendel zählt zu den bedeutendsten Pianisten
der Gegenwart. Die Veröffentlichungen der letzten Jahre beweisen das noch einmal nachhaltig und stellen
Brendel in eine Linie mit Größen wie Edwin Fischer, Emil Gilels und Arthur Schnabel.
Der Meister der akribischen Details: Jubilar Alfred Brendel. Foto: Isolde
Ohlbaum
Aber beginnt so eine Pianisten-Karriere? Weder Russe noch Wunderkind, die Eltern unmusikalisch und das Blattlesen
fiel ihm auch immer schwer. Ich verstehe überhaupt nicht, warum ich Erfolg hatte, bekennt Alfred
Brendel gleich zu Beginn der Dokumentation Man and Mask, die anlässlich seines 70. Geburtstags
von der BBC produziert wurde. Man muss nicht Brendel-Fan sein, um zu begreifen, dass derartige Aussagen nicht
ganz ernst gemeint sind. Überhaupt zeigt Mark Kidels Porträt einen hoch gebildeten Künstler mit
feinem Witz. Auch einen wohltuend uneitlen Pianisten, der sich gängigen Virtuosen-Klischees verweigert.
Das alles erfährt man beim Interview in Brendels Londoner Domizil, bei Gesprächen in Wien und Zagreb.
Daneben gibt es viel Archivmaterial mit etlichen Bühnen- und TV-Auftritten. Etwa das herbe Andante
aus Schuberts B-Dur-Sonate, 1968 aufgenommen in einer sparsam eingerichteten Kammer, oder ein furioser Kopfsatz
aus dem d-Moll-Konzert von Brahms (1986). Schade nur, dass die Aufnahmeorte nicht immer angegeben werden. Auf
einer zweiten DVD findet sich dann ein Konzertprogramm, das einmal mehr zeigt, wie der Mensch Alfred Brendel,
ist auch sein Klavierspiel: mal heiter-entspannt wie in Haydns vorletzter Es-Dur-Sonate, mal trocken wie in
der c-Moll-Sonate von Mozart aber immer kontrolliert und klar. Wie solche Interpretationen zustande kommen,
erfährt man auch bei Proben zur Gesamteinspielung von Beethovens Klavierkonzerten mit Simon Rattle.
Ob den beiden damals klar war, dass hier eine regelrechte Neudeutung entstand, kommt bei den Aufnahmen nicht
heraus. Das Ergebnis jedenfalls veranlasste auch gut sortierte Tasten-Freaks zum Neukauf. Das verblüfft
insofern, als allein von Brendel drei Gesamtaufnahmen greifbar sind und die aktuellen Platten-Kataloge nicht
gerade arm sind an guten Beethoven-Klavierkonzerten.
Wodurch aber unterscheiden sich Brendel und Rattle von all diesen? Spektakuläre Pianisten-Tricks wird
man nicht erwarten dürfen. Dazu ist Brendel viel zu sehr am Werk interessiert. Die Zurschaustellung der
eigenen Person kümmert ihn wenig. Womöglich ist aber genau das der Punkt: Weil Brendel akribisch die
Partitur darstellt und nur sie, legt er neue Details frei. Deshalb gelingt das Ungeheuerliche: Auch nach dem
x-ten Hören der fünf Konzerte findet man so nicht gehörte Einzelheiten. Allein das Finale im
B-Dur-Konzert, wie Brendel da die Modulation nach G durch Gewichtung des unbetonten Taktteils subtil verschränkt
mit ihrer Auflösung! Wie er im Kopfsatz des C-Dur-Konzerts die verqueren Rhythmen in linker und rechter
Hand deutlich voneinander trennt! Unnütz zu betonen, dass die Wiener Philharmoniker unter Rattle solcher
Präzision in nichts nachstehen. Schon die punktgenauen, ruckartigen Tutti-Einsätze sind eine Freude.
Ganz zu schweigen von der spürbaren Kommunikation zwischen Orchester und Solist.
Sternenhelle Objektivität
Die neueste Mozart-Aufnahme von Brendel und dem Scottish Chamber Orchestra unter Sir Charles Mackerras fasziniert
durch anderes: Eine derartige Spieldisziplin ist in den späten Es- und B-Dur-Konzerten selten zu hören.
Leistet das aber nicht einem sterilen Mozart-Bild Vorschub? Nivelliert es nicht auch die dramatische, die erzählende
Komponente, wie sie der Instrumentalmusik Mozarts immer anhaftet? Keine Frage, die auratische Wärme einer
Mitsuko Uchida wird man vergeblich suchen. Dafür schwebt die Musik bei Brendel, entwickelt ihre Zielrichtung
ganz von allein, ohne Zutun der Interpreten. Das hat damit zu tun, dass Brendels Anschlag ohnehin zum Unangestrengtesten
zählt, was derzeit auf einem Steinway zu hören ist. Gerade weil Tasten-Shows vermieden werden, rückt
die Komposition selbst ins Zentrum. Dadurch werden diskursive Strukturen umso klarer.
Offener Schlagabtausch
Verglichen mit solch sternenheller Objektivität wirkt Brendels Zusammenarbeit mit dem Alban Berg Quartett
wie ein offener Schlagabtausch. Es mag verwundern, dass sich die fünf Künstler überhaupt zusammengetan
haben. Denn das Wiener Quartett kultiviert gezähmten Überschwang und ekstatische Klangpoesie. Keine
Spur von der Strenge eines Alfred Brendel. Freilich werden Mozarts Klavierquartett Nr. 2, noch mehr aber das
Konzert A-Dur (KV 414 in der Fassung für Streichquartett) genau deshalb zu einer spannenden Sache. Weil
man spürt, dass beide Teile Spass dabei hatten, den Klangvorstellungen des jeweils anderen etwas entgegenzusetzen.
So aufregend dies auch sein mag wenn Alfred Brendel seinen 70. Geburtstag feiert, darf ein Solo-Recital
nicht fehlen. Das jedenfalls meinten die Organisatoren der Salzburger Festspiele und präsentieren eine
Compilation mit Live-Dokumenten aus den frühen 80er-Jahren. Aus dem Brendel-typischen Repertoire ragt für
mich ein Werk heraus: Haydns Londoner C-Dur-Sonate. Weil der trockene Witz von Interpret und Komponist so wunderbar
harmoniert. Und selbst wenn nicht jeder High-End-Freak zufrieden sein wird mit der klanglichen Abbildung der
Mitschnitte die herausragende künstlerische Qualität macht auf jeden Fall klar, warum Brendel
Karriere gemacht hat. Und das ist keineswegs ironisch gemeint...
Oliver Wazola
Diskografie
Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 15, Klaviersonate op.57 Appassionata; Wiener Philharmoniker,
Simon Rattle; Philips 468666-2 (3 CDs)
Mozart: Klavierkonzerte Nr. 22 (KV 482) und 27 (KV 595); Scottish Chamber Orchestra, Sir Charles Mackerras;
Philips 468367-2 (CD)
Mozart: Klavierkonzert Nr. 12 (KV 414), Klavierquartett Nr. 2 (KV 493); Alban Berg Quartett; EMI 5569622
(live, CD)
Live in Salzburg: Haydn, Variationen f-Moll (Hob.XVII:6), Klaviersonate C-Dur (Hob.XVI:50); Schubert, Klaviersonaten
in a-Moll (D 784) und C-Dur (D 840); Liszt, Isoldes Liebestod (Slbg. Festspiele 198185);
Philips 470023-2 (CD)
DVD-Video
Alfred Brendel in Portrait, Dokumentation Man and Mask, Proben mit Simon Rattle, Gedichtlesung;
Haydn, Klaviersonate Es-Dur (Hob.XVI:49); Mozart, Klaviersonate c-Moll (KV 457); Schubert, Impromptu Nr. 3
Ges-Dur (D 899); BBC OA0811D (2 DVDs)