[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 32
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Arbeitskreis
Musik in der Jugend
...und plötzlich gibt es Gegensätze!
Chor-Erfahrungen nach dem 11. September 2001
Der Neue Knabenchor Hamburg plante seit langer Zeit eine Konzertreise in die USA, genauer: nach Kalifornien,
San Diego, San Francisco, Santa Monica, Los Angeles. Alles war bestens vorbereitet, Kontakte geknüpft,
Gelder bewilligt, Konzertprogramme eingeübt, Chorhosen gebügelt, Schuhe geputzt, Extra-Urlaubsbeantragungen
und kinderloses Ferienglück für die Eltern organisiert dann der 11. September!
Angst und Unsicherheit, Ärger und Frust, Wut und Trauer all das mündete in die keineswegs
einstimmige Entscheidung der Teilnehmer, die Reise nicht anzutreten. Stimmen wurden laut wie: Die meisten
von uns haben doch diese Angst. Diese Verantwortung für fremde Kinder kann man nicht
tragen. In dieser Situation im fremden Land Heimweh haben? Aber auch: Ach
was, passieren kann überall was. Ob ich meinen Sohn jetzt ohne die Reise noch motivieren
kann, weiter mitzusingen? Hier wird ja nur Stimmung gegen eine Reise gemacht.
Jetzt blieb nur übrig: Erleichterung gegen Enttäuschung. Jetzt galt es, das eine Generalproben-Konzert
zu Hause gegen die fünf geplanten Konzerte in den USA zu stellen. Hier verdichtet, konzentriert (Nur
dies eine Mal muss es gut werden.), dort mehrere Konzerte (Nächstes Mal wird es besser, wir
haben ja noch Gelegenheit.). So sangen wir hier in Hamburg unsere traurigen Lieblingsstücke,
um der Terroranschläge in den USA zu gedenken. Die Musik unter diesen Gegebenheiten war schön wie
nie. Worte wie: Da hätten sich die Amerikaner bestimmt gefreut! wurden zu Hause mehr gefühlt
als gesprochen...
Jetzt galt es auch, sich eine neue kurzfristige Ferienplanung gegen langweiliges Zu-Hause-Sitzen zu überlegen.
20 von 40 machten mit. Was blieb? Auch ohne den 11. September ein Gegensatz wie er größer nicht sein
kann: Eine lange Flugreise in ein fernes Land am anderen Ende der Welt, riesige Flughäfen, neun Stunden
Zeitunterschied, Millionenstädte, Wolkenkratzer, weite Entfernungen, Unterbringung bei sicherlich solventen
Familien oder in Hotels, geliebtes Fastfood, großartige Wasser- und Landschaftskulissen, filmreife Sonnenuntergänge,
Hollywood, Universal-Studios, Disney-Land, breiteste Strände, längste Brücken, Superlative überall
ganz abgesehen von fremder Sprache für die meisten Kiddies und dem Alkoholverbot für die unter
21-Jährigen sowie fünf Konzerte, sicherlich auch Erfolg, Glückwünsche, Solisten, Applaus,
Verbeugen...
Gegen: eine eineinhalb-stündige Autofahrt an die Nordsee in die Nähe von St. Peter Ording, einem
plüschigen Familienbadeort, kleine bis kleinste Ortschaften, kurze Wege, kleine Eiderstedter Kirchen, Wohnen
auf einem ausgebauten Haubarg mit Bauernwirtschaft, Selbstverpflegung mit heimischen Apfelpfannkuchen, Tischdienst,
Regen, Matsch, verhangener Himmel, flache Ebene, schwarz-weiße Kühe, tausend gen Süden ziehende
Graugänse, stundenlanges Baden in der Dünentherme, landestypisches Watt-Museum, Fußballspielen
auf nassen Wiesen, Sitzen vor dem Kamin, Schlafen auf dem Dachboden, Lieblingsspiele und Bücher mal wieder
hervorholen, nur so singen ging es darum, einem volkstümlerischen Bleibe im Lande
und nähre dich redlich zu frönen?
Nein, eher eine Reise nach innen. Größer kann ein Gegensatz nicht sein. Wie wird er wirken? Hoffen
wir, dass Großes den Blick und das Ohr uns nicht verstellt auf Kleines, dass aber
auch Naheliegendes uns nicht mutlos und klein macht für Utopien.
Für die Jungs wird es ein Baustein in ihrer Entwicklung sein, der Erlebnis und Erfahrung heißt
einer unter vielen. Für sie ist alles neu, ebenso wie steinalte oder brandneue Musik: Pergolesi
und Mozart ist genauso neu zu erfahren wie Ligeti oder Henze. Haben sie es besser?