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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 10
50. Jahrgang | Dez./Jan.
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In großer Zeit
Hollodriohdrioh, Jetzt bin ich an der Front, Hollodriohdrioh, Dös bin i schon gewohnt! lässt
Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit den als Kriegsberichterstatter tätigen bayerischen
Dichter Ganghofer jodeln, bevor tatü-tata der Deutsche Kaiser im Auto mit Gefolge herbeirauscht
und es zur historischen Begegnung der zwei Großen hinter der Front kommt.
Auf die Frage des um seinen Lieblingsdichter besorgten Kaisers, ob er denn schon Mittagbrot gegessen habe,
antwortet Ganghofer: Nein, Majestät, wer würde denn in so großer Zeit an so etwas denken?
Dieweil stopft ihm der Flügeladjudant die Taschen voll mit Feldzwieback.
Auch jetzt herrschen wieder einmal große Zeiten. Seit bald drei Monaten sind wir nun alle Amerikaner.
Wir essen unsere Zwiebackburger von McDonalds mit neuer Inbrunst, warten begierig auf die vielen patriotischen
Abenteuerfilme, in denen dank dem neuen Bündnis zwischen Hollywood und Pentagon der Kampf gegen das Böse
zu ungeahnten Heldentaten aufschäumen wird, und sind zuversichtlich, dass in der weltoffenen Stadt Hamburg
der Richter Schill bald den fälligen Schritt tut und die bei unseren Freunden so beliebte Todesstrafe auch
bei uns einführt. Und nicht zu vergessen Bill Gates: Wir heißen ihn willkommen als einen der Unseren,
er lehre uns, wie wir unser Denken per Mausklick in nützliche Bahnen lenken. Womit wir beim unerschöpflichen
Thema Computer wären. Vor dem Sakrileg in so großer Zeit an so mindere Dinge zu denken, beschützt
uns nur die Tatsache, dass wir uns bei diesem Thema stets ganz nah an der Microsoft-Welt und damit auf gesichertem
Denkterrain bewegen. Heute geht es um die große Freiheit des Designs, das uns die vielen schönen
Programme von Gates, friends and partners ermöglichen.
Seit der alte gemütliche Bleisatz ausgestorben und der Computersatz an seine Stelle getreten ist, kennt
die gestalterische Fantasie des grafischen Gewerbes kein Halten mehr. Programme wie Photoshop oder Quark Express
sind inzwischen dank Windows-Kompatibilität weltweit zum Standard avanciert und prägen das grafische
Erscheinungsbild der Werbebotschaften und Druckerzeugnisse zwischen Tokyo und Paris, Rom und Rio. Sie bieten
so viele Features, dass im User unweigerlich der Spieltrieb entfesselt wird. Was ihm zwar Spaß macht,
dem Adressaten der Botschaft, dem armen Konsumenten, aber bisweilen Mühe bereitet, denn manche Botschaft
wird damit nicht attraktiver, sondern unübersichtlicher. Vor einigen Jahren gab es Grafiker, die sich einen
Jux daraus machten, Texte und Bilder so zu dissoziieren, dass sie mühsam zusammenbuchstabiert werden mussten.
Die Oberfläche sollte aufgebrochen, die Wahrnehmungsroutine infrage gestellt werden, wie es vor Jahrzehnten
auch einmal die musikalische Avantgarde propagierte.
Seit einiger Zeit läuft der Trend in eine andere Richtung. Anstelle der Dekonstruktion werden von den
Designern munter neue Sinnzusammenhänge etabliert, ohne viel nachzudenken, ob das nun zum Ausgangsmaterial
und seinen Intentionen passt oder nicht. Eine gewisse Arroganz derer, die an der letzten Stelle des Produktionsprozesses
stehen und somit das letzte Wort haben, kann man diesem Verfahren nicht absprechen.
Ein Musterbeispiel sind die neuen Programmhefte der Musica-viva-Konzerte in München, in denen sich die
Willkür der selbstherrlichen Gestalter ungehindert austobt. Es beginnt schon damit, dass auf der Titelseite
das Datum des jeweiligen Konzerts in so manirierten Ziffern zelebriert wird, dass man meint, es handle sich
um koreanische Schriftzeichen. Das mag noch unter dem Motto Auffallen um jeden Preis laufen, das
ja in der Werbebranche zu den obersten Grundsätzen gehört. Bei der Gestaltung des Inhalts wirds
dann aber prekär. Als Buntfarbe zur Auszeichnung von Titeln wird etwa ein verblasstes Grün gewählt,
das bei schlechtem Licht kaum noch wahrnehmbar ist, wodurch das Prinzip der Hervorhebung ad absurdum geführt
wird. Der Lauftext wird in kleiner Schrift und mit extrem weitem Zeilendurchschuss über die Seite ausgebreitet,
der Satzspiegel reicht außen bis wenige Millimeter an die Schnittkante heran, so dass man beim Lesen nicht
weiß, wo man den Daumen halten soll.
Noch nicht genug der Lesebehinderung. Dem entfesselten Grafiker kommt in den Sinn, alle Absätze, die
ja der Gliederung des Gedankenflusses und damit der besseren Lesbarkeit dienen, einfach aufzuheben und den Text
als unendliche Geschichte über die Seiten hinweg laufen zu lassen. Und nun kommt zur avantgardistisch auftrumpfenden
Tumbheit noch die Unverschämtheit: Als Ersatz für die unterdrückten Absätze
werden willkürlich einzelne Wörter und Satzteile unterstrichen oder mit Farbbalken unterlegt und damit
hervorgehoben. Das Resultat: Eine Gängelung der Wahrnehmung und Verzerrung der Textinhalte, was umso gravierender
ist, als es offenbar weder mit der Redaktion und schon gar nicht mit dem Autor abgesprochen worden ist. Der
Leser wird durch grafische Wahrnehmungsbarrieren erst wehrlos gemacht und seiner Orientierung beraubt, um anschließend
mit der autoritären Zeichengebung von Verkehrspolizisten durch die unübersichtlich gewordene Textmasse
gewunken zu werden. In einer Buchpublikation über die Zukunft der Musikfestivals, die 1999 in der Schweiz
erschienen ist, gibt es ähnliche Symptome eines verkrampften Progressismus. Sie werden vom verantwortlichen
Grafiker in einer Nachbemerkung begründet: Die experimentelle Strategie hinterfragt somit stereotype
Darstellungsformen, wie jene, dass Hervorhebungen einzig autorintendierte Extrakte darstellen. Die grafisch
traktierten Texte sollten das Weiterdenken motivieren und kreative Prozesse initiieren.
Die gestelzte Erklärung verhüllt nur schlecht die Geringschätzung von autonomen Denkprozessen.
An deren Stelle setzt sie das Zappingprinzip des Fernsehens und des Mausklicks.
Der Siegeszug des Hypertexts hat viele, die ihm vor einem Jahrzehnt noch begeistert gefolgt sind, zu mentalen
Opfern gemacht, die nicht mehr in der Lage sind, einen Gedankengang stringent zu Ende zu denken. Ganghofer war
da resistenter. Obwohl er am Schluss den Mund mit Zwieback vollgestopft hat, kann er nach der Mitteilung des
Kaisers, die österreichischen Truppen würden eine Wagenladung bayerisches Bier erhalten, immerhin
noch die sehr aktuellen Worte brabbeln: Ein neues Stahlband des Zusammenhaltens!