Die Schauspielerin und Chansonette Meret Becker mit neuer CD auf Tournee
Brecht war ein Punk, titelte die Berliner Morgenpost anlässlich ihrer aktuellen Tournee, und
die Lady ist mal Vamp, mal Lolita, aber auch Berliner Kodderschnauze, der Lieblingssätze wie Singen
hat viel mit Vögeln zu tun entfahren. Die Rede ist von Meret Becker Musikerin, Sängerin,
Schauspielerin und Streicherin der singenden Säge. Auf ihrer vierten CD fragiles verknüpft
sie, wie schon auf dem Vorgänger-Album Nachtmahr schaurig-schräge Geschichten mit
zarten bis klirrenden Klängen, Flüstern und Hauchen zu ihren einzigartigen Chansons. Ursula Gaisa
unterhielt sich mit ihr vor dem Konzert in Nürnberg am 22. November 2001 über Kunst und Wirklichkeit.
Gesamtkunstwerk: Meret Becker tourt mit Ulrike Haage und Buddy Sacher.
Für die Songs und Lyrik auf der neuen CD hat sich Meret Becker durch Erzählungen und Anekdoten von
Freundinnen inspirieren lassen. Die Zwischenwelten faszinieren sie, wo Realität sich verschiebt,
wo es surreal wird. Das finde ich total spannend. Weil der Mensch ja immer behauptet, er hätte alles entdeckt,
und das stimmt nicht. Es gibt viel mehr zu entdecken als diesen puren Realismus, der ja eigentlich keiner ist.
So is det, das ist Handwerk, so macht man nen Tisch, dabei haut sie zur Bekräftigung
auf die Tischplatte in ihrer Garderobe. Ich versuche, das Gegenteil zu beweisen, dass ein Tisch nicht
unbedingt ein Tisch ist.
Da macht sich ein älterer Herr jeden Abend schön für die Tagesschausprecherin im Fernsehen,
in die er verliebt ist, und ist fest davon überzeugt, dass wenn er sie sehen kann, sie ihn sicher auch
wahrnehmen kann, so hat man das in der Schule gelernt, das ist das Gesetz der Optik. Im Chanson
Gläsernes Gesicht sieht Meret hinter die herausgeputzte Fassade einer Bordsteinschwalbe, deren
Seele schließlich von einem Regenschauer erweicht wird. Anachronismen nennt die 32-Jährige
diese Lieder über die Verschmelzung von Jugend und Alter, die sie aufspürt: von der Insassin eines
Altenheimes etwa, die langsam ihr Gedächtnis verliert und zärtlich Gräfin von ihrem
Pfleger genannt wird, weil sie so schöne Hände hat... Auch Kindheits- und Traumbilder finden Verwendung,
wobei Meret nicht nur Friede-Freude-Eierkuchen-Erinnerungen hat: Kindheit ist gar nicht so
was Fröhliches, finde ich.
Musikalisch begleitet wird sie auf dieser melancholischen Reise von Ulrike Haage von den Rainbirds
am Keyboard und Buddy Sacher an Bass, Gitarre und Banjo. Sacher lernte sie ganz am Anfang ihrer musikalischen
Karriere bei Ars Vitalis kennen. Das sind drei Jungs aus Leverkusen, na ja Jungs, ein bisschen
ältere Jungs als icke. Anfang 1993 haben wir uns gegenseitig entdeckt und uns sofort musikalisch ineinander
verliebt. Wem die Platte beim ersten Anhören schwierig erscheint, sollte Meret Becker unbedingt einmal
live auf der Bühne erleben, wo sich der ganze Zauber und die imaginäre Kraft ihrer Geschichten entfaltet,
die sie dort zum Klingen bringt. Sie ist eine großartige Performerin, und wenn sie barfuß im grünen
Prinzessinnenkleid auf ihrer Melodika, einem kleinen Zirkus-Akkordeon und mit verschiedenen Plastikpfeifchen
und -tröten ihre Lieder begleitet, kann man sich gar nicht satt sehen an so viel poetischen Spielereien.
Der visuelle Aspekt wird durch die DVDs des Künstlers Lars Henkel, der auch das Cover von fragiles
gestaltet hat, noch erweitert surreale fantasievolle Bilder, die unter die Haut gehen und noch lange
nach dem Konzert im Gedächtnis haften. Spätes-tens jetzt wird klar, was ihre stetig wachsende Fangemeinde
fasziniert: es ist die Mischung aus verletzlicher Kindfrau und Musikclown mit Hang zum Morbiden, die aus der
deutschen Chanson-Szene nicht mehr wegzudenken ist.
Die Liebe zur Musik ist tief verwurzelt: Ich hab als Kind schon immer gesungen, und die singende
Säge spielt Meret Becker seit ihrer Rolle in Sönke Wortmanns Film Kleine Haie (1991).
Im Drehbuch hieß es, sie hat ihre Bratsche zwischen die Beine geklemmt, woraufhin Meret den
Vorschlag machte, doch eine Säge zu verwenden, die sie aus ihrer Zeit beim Varieté kannte: Das
ist doch viel unterhaltsamer, wenn jemand in der Fußgängerzone so was spielt. Da gu-cken die Leute
gleich.
Unter ihren Mitbewerberinnen schätzt sie Cora Frost, die sich schon in sehr moderne Formen des Chansons
begibt, denn das Chanson kann sich der modernen Musikwelt nicht verschließen. Verkaufszahlen interessieren
sie schon, aber nicht beim Machen der CD, ich finde nicht, dass sich das widersprechen muss, Kommerzialität
und Kunst. Es kann sich durchaus widersprechen, wenn man von Anfang an auf den Trichter geschickt wird, man
soll sich verkaufen. Dann kann die Kunst nicht mehr richtig stattfinden. Aber ich finde umgekehrt, dass die
Kunst sich am Ende verkauft ist eine Frage des Marketings.
Was sie sich von ihrem Publikum wünscht, ist klar: Was ich gern habe, und das scheint auch
irgendwie zu greifen, Kunst ist für mich nicht irgend etwas Abgehobenes, sondern Kunst ist für
mich... Also ich will es mal so beschreiben, da gibt es diese Indianer, die gehen auf Büffeljagd. Und da
gibts eben einen, der schreibt auf, dass sie Büffel gefunden haben und was dann passiert ist. Der
eine zählt eben die Büffel, und dann gibts einen, der will aber beschreiben, was er dabei empfunden
hat, als diese Wahnsinnshorde von 200 Büffeln vorbei getrabt ist. Und der versucht das wiederzugeben, und
dazu ist ihm jedes Mittel recht. Und so ist es bei mir auch. Ich versuche bestimmte Dinge, die ich empfinde,
die ich gesehen habe, in meiner Musik widerzuspiegeln. Und dann hoffe ich, dass bei den Leuten dieses Gefühl
auch kommt, dass sie das auch empfinden. Und das tun sie.