Hans Joachim Vetter verstarb im Alter von 95 Jahren
Bei lauem Wind saßen wir beide im Segelboot auf dem Ammersee und klönten miteinander: Du solltest,
meinte ich damals, einen Artikel schreiben und all das hineinflechten, was dich, was uns gemeinsam gerade
jetzt so beschäftigt, wofür wir ebenfalls den richtigen Wind brauchen, damit es weitergeht.
Jugend musiziert als eine kulturpolitische Aufgaben zu begreifen, als eine Aufgabe, an der
sich all die Nöte, die Fragezeichen, die Probleme, die Perspektiven abzeichneten, die die Musikerzieher
und ihre erst langsam in Fahrt kommenden Fach- und Berufsverbände und Institutionen zu beschäftigten
begannen.
Da war drei Jahre vorher der Wettbewerb Jugend musiziert kreiert worden, hatte die musikpädagogische
Szene aufgerissen. Aber es geschah zu wenig. Man staunte über das vorhandene Begabungsreservoire unter
unserer heranwachsenden Generation. Doch an genügend vorgebildeten Lehrern fehlte es. Erst recht an Musikschulen,
an Räumen, an Finanzmitteln, ja am Verständnis und an Förderungsbereitschaft bei vielen Behörden
verschiedenster Ebenen und Verantwortlichkeiten. Wo sind die Entscheidungsträger, die diese Situation ändern
können?
So war er eben: er machte Ernst, ließ sich nicht lange bitten, packte zu wie immer in seinem Leben,
wenn und wo immer er gefragt wurde: Hans Joachim Vetter. Den Artikel hämmerte Hans Joachim Vetter noch
am gleichen Abend auf der Veranda der Sommerhütte bei untergehender Sonne in die klapprige Schreibmaschine.
Jugend musiziert eine kulturpolitische Aufgabe, unter diesem Titel erschien sein Beitrag
im November 1966 in der den kommunalen Spitzenverbänden nahestehenden Zeitschrift Kulturarbeit,
die es leider nicht mehr gibt.
Dieser Beitrag rüttelte auf, die gemeinsame Aufgabe zu sehen und anzupacken. Privatmusikerzieher, Musikschulen,
damals erst knapp 200 aufs Bundesgebiet verteilt, Konservatorien, Schulmusiker, sie alle im gegenseitigen
Konkurrenzkampf stehend, nahmen damals wenigstens noch viel zu wenig voneinander Kenntnis. Doch
die ersten Jahre von Jugend musiziert mit ihren Ergebnissen ließen aufhorchen, spornten an
zu Mut und Bereitschaft, wieder Leistung anzustreben und zu zeigen. Das motivierte zugleich, mehr Kinder und
junge Menschen an Musik heranzuführen, so früh wie möglich, auch Defizite in bestimmten Instrumenten
zu ermitteln und dafür zu werben und Lehrer zu suchen und dafür zu qualifizieren. Es galt, so Vetter,
Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen, gegenseitige Spannungen abzubauen: Langjährige Gegensatzstellung
wandelt sich langsam aber zielstrebig zu förderlichem Zusammenwirken. Eine große Zahl von Kräften
stände bereit, schrieb er, um für ein gemeinsames Ziel zusammenzuarbeiten. Das war Vetters Devise
und dafür war er als erster selbst zu gewinnen. In seinem Beruf und noch mehr im Ehrenamt. Da zeichneten
sich für ihn Konsequenzen ab für Lehrerfortbildung, für die Fachausbildung, für die Gründung
neuer Musikschulen, für den Kontakt über Grenzen hinaus.
So geriet Vetter immer mehr zur Schlüsselfigur für die wieder belebte Musikerziehung und die Institutionen
besonders außerschulischer musikalischer Bildung. Seine Kompetenz war allenthalben gefragt und unumstritten.
Denn von seinen Studien in Berlin brachte er eine universelle musikalische Bildung mit. Wie sonst hätte
er, der Zwanzig- und Dreißig-jährige als Kapellmeister, Liedbegleiter, Singleiter und Gesangspädagoge,
Wissenschaftler und Theoretiker vor, während und nach dem Kriege musikalisch überleben können?
Durch Aufbau und Leitung von Musikschulen, ab 1958 für 15 Jahre Direktor der Westfälischen Schule
für Musik in Münster, danach 5 Jahre noch Dekan des zum Hochschulinstitut avancierten beruflichen
Teils seiner Ausbildungsstätte, wusste er, wo und wie anzupacken: einerseits neue Studienfächer, -ordnungen
und -gänge ins Gespräch zu bringen, andererseits auf dem Weg durch die Institutionen Entwicklungen
anzuregen, zu beeinflussen und fachlich zu begleiten.
Die wieder vereinigten Tonkünstlerverbände der deutschen Länder holten ihn 1964 zur Gründung
und ins Präsidium des Verbandes deutscher Musikerzieher und konzertierender Künstler, wo er sich etwa
der Sparte Angestellter Musikerzieher annahm, bis sich diese unter seiner Mithilfe als Gewerkschaft
der Musikerzieher (GDMK) verselbständigte. Ihm als langjährigem VDMK-Präsidiumsmitglied, einige
Jahre als Präsident und schließlich als Ehrenpräsident, verdankt dieser Berufsverband entscheidende
fachpädagogische, soziale, verbands- und kulturpolitische Entwicklungen. Vetter war zur Stelle, wenn der
Deutsche Musikrat in seiner Arbeitsgemeinschaft Musikberufe zur Durchsetzung sozialpolitischer Anliegen seine
Argumentationshilfe brauchte, um das soziale Ansehen und die Stellung des Musikerziehers zu verbessern. Vertraut
mit den Defiziten vokaler Ausbildung engagierte er sich für den 1966 begründeten Bundeswettbewerb
Gesang. Die D-A-CH-Zusammenarbeit mit den Fachvertretern Österreichs und der Schweiz wurden ihm zur Herzenssache
mit der Folge lebenslang freundschaftlicher Verbundenheit.
Das galt auch im Verhältnis zu dem um eine Generation Jüngeren, wohl weil wir aus ähnlichem
Holz geschnitzt waren und erwachsen aus den vielen Gemeinsamkeiten, die es während vier Jahrzehnten in
etlichen Gremien zu bewältigen, durchzusetzen, gemeinsam zu gestalten gab. Vetters Widmung Meinem
lieben Freund und Mitstreiter bei gemeinsamen Sorgen und Nöten drückt das honorig aus, die er
mir in die 1984 von ihm erarbeiteten Dokumentation Die Tonkünstlerverbände 18441984
(Bosse-Verlag) schrieb.
Das Denkmal, das sich Vetter jedoch für viele Generationen Lehrer u u an Musikschulen schuf, ist das
Lehrplanwerk, das er mit Dutzenden von Fachkollegen für den Verband deutscher Musikschulen entwickelte.
Denn hierin wird für alle Fächer und Lehrbereiche an Musikschulen systematische Orientierung, ja darüber
hinaus für Musiklehrer wertvollste Anregung vermittelt. Daneben zeichnete er, durch mehr als zwölf
Jahre Vorstandsmitglied des VdM und noch danach bis ins hohe Alter fachlich beratend, verantwortlich für
die Dokumentationen der zweijährlichen Musikschulkongresse. Fast mit Enthusiasmus legte er alljährlich
Zigtausende von Autokilometern zurück, um sich für aktuelle Lehrer- und Leiterfortbildung, für
Fachvorträge, Konzerte, Prüfungen und Beratungszwecke zur Verfügung zu stellen, besonders gerne
als Gastdozent in der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen. Wie sehr war sein Fachurteil
gefragt in Jurygremien von Wettbewerben aller Kategorien und Kaliber! Als roter Faden schlängelte sich
sein Faible und die ständige Auseinandersetzung mit der Musik unserer Zeit durch sein Leben, begonnen hat
es mit seinem Arbeitskreis für Neue Musik am Duisburger Konservatorium, wo er nach seiner russischen Gefangenschaft
1948 eine erste pädagogisch Position gefunden hatte und wo er die dortige Jugendmusikschule aufbaute. Die
grundsätzliche Beschäftigung mit Neuer Musik schlug sich nieder in dem 1968 bei Schott veröffentlichten
Baustein-Band Die Musik unseres Jahrhunderts, das 1970 in 2. Auflage gebracht wurde. Nicht zu zählen
sind seine Juryeinsätze bei Jugend musiziert. Und am engagiertesten brachte er sich ein, wenn
es die besten Interpretationen zeitgenössischer Musik beim so genannten Erlanger Preis zu prämieren
galt, wobei er verständlicherweise nie befriedigt war, wenn bei manch kollegialer Diskussion einvernehmlich
umrissen werden sollte, was Neue Musik ausmacht und wie weit zwischen vorgestern und heute der Bogen Neuer Musik
zu spannen ist.
Vetter, Ziehvater für viele Musikerzieher, Vorbild durch seinen unglaublichen persönlichen Einsatz,
vielfach geehrt und gewürdigt von Schülern, Kollegen und Institutionen, war eine entscheidende und
prägende Instanz für die Entwicklung der Musikerziehung eines halben Jahrhunderts. Im Alter von 95
Jahren wurde er jetzt von einem kleinen Kreis treuer Anhänger in Hannover zu Grabe getragen.