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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 52
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Dossier: Musikbuch
aktuell & neue Noten
Ganz im Sinne der Klaviermethodik
Elgin Roths Buch zur Klaviermethodik der Gegenwart hebt einen Wissensschatz
Klavierspiel und Körperbewusstsein in einer Auswahl historischer klaviermethodischer
Zitate. Zusammenstellung, Erläuterungen, kritische Stellungsnahme von Elgin Roth herausgegeben
vom Wissner Verlag-Augsburg/FORUM MUSIKPÄDAGOGIK Band 47, 400 Seiten, 49,- DM (ISBN 3-89639-276-X)
Das alte philosophische Wort: Das Ganze ist immer mehr als die Summe der einzelnen Teile scheint
in der gegenwärtigen klaviermethodischen Diskussion mehr denn je an Aktualität zu gewinnen. Ganzheitliche
Schulung von Körperbewusstsein, Bewegungskoordination und nicht zuletzt Klangvorstellung spielten in der
Geschichte des klassischen Klavierspiels und der unmittelbar damit verbundenen spezifischen Entwicklung unterschiedlichster
Spieltechniken schon seit jeher eine zwar im Ergebnis selten konsensstiftende, jedoch sehr wesentliche Rolle.
Mit dem Erscheinen des erst kürzlich herausgegebenen Buches ist der herausragenden Autorin Elgin Roth,
selbst langerfahrene Klavierprofessorin und Methodik-Expertin, ein diesbezüglich für die klassische
Klaviermethodik exzellenter Wurf gelungen eine Novität in diesem Genre. Das Buchwerk bemüht
sich um faktische Aufhellung der jeweiligen Klavierspielpraxis respektive Körperbewusstsein von den Ursprüngen
bis heute und verfolgt insbesondere das Ziel, klaviermethodisch relevantes Wissen der letzten drei Jahrhunderte
wieder allgemein verfügbar zu machen, und zwar im Sinne der Prinzipien heute anerkannter Körperpraktiken
(Eutonie, F.M.-Alexander-Technik, Feldenkrais, Dispokinese, Kinesiologie usw.).
Unterschätzt Methodik
Es lässt sich aus verständlichen Gründen leicht nachvollziehen, dass Klavierpädagogen
heute wie damals in ihrer freien Zeit lieber Klavier spielen und üben, anstatt sich langwierig mit klaviermethodischen
Traktaten, und seien sie inhaltlich noch so wertvoll, auseinander zu setzen. Dass bei einem natürlichen,
ökonomisch bewussten Klavierspiel zur künstlerischen Arbeit auch die minuziöse Auseinandersetzung
mit klaviermethodischen und -technischen Detailfragen unausweichlich hinzukommt, zumal dies die eigene klavierpädagogische
Unterrichtspraxis geradezu ausmacht, wird theoretisch heute kaum mehr ein Klavierlehrer bezweifeln wollen, ist
dennoch weitestgehend im Berufsalltag nach wie vor schlichtweg unterschätzt, verschleiert und verdrängt
worden somit Tür und Tor offen lassend für methodische Fehlinterpretationen. Die hieraus tradierten
defizitären Werte bestimmen noch im hohen Maße die gegenwärtige klassische Klavierspiel- und
Unterrichtspraxis und deren gesamte pianistische Kulturlandschaft.
Klavierspiel der Gegenwart: Jens Thomas bewegt sich sehr eigenständig
zwischen Klassik, Neuer Musik, Jazz und Rock.
Foto: Martin Hufner
Elgin Roths Buch zur Klaviermethodik der Gegenwart vermag den diesbezüglich verloren gegangenen (Wort-
und)Wissensschatz in kongenialer Weise zu heben, zu bergen und für die heutige Praxis der klassischen Klaviermethodik/-pädagogik
wieder neu verfügbar zu machen. Somit hält es durchweg nicht nur was es verspricht, sondern mehr noch:
Auf einmalige Weise gelingt es der Autorin in ihrem Buch, unter kinästhetisch ganzheitlicher Betrachtungsweise,
eine seit langem schon anstehende, systematische Erläuterung einer klavierpädagogisch praxisnahen
Terminologie zur Klaviermethodik der Gegenwart zu unternehmen. Der Leser des Buches kommt in den Genuss eines
höchst aufschlussreiches und spannendes Zitatenwerk der teils heftig sich widersprechenden Thesen führender
Klaviermethodiker. Doch Vorsicht, bitte langsam!
Elgin Roths Arbeit mag auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als verfolge sie das Ziel, Zitate
aus bekannten und weniger bekannten Werken der Klaviermethodik geordnet nach Themenkreisen lediglich zusammenzutragen
und ihre Quelle anzugeben, um sie so leichter verfügbar zu machen. Eine Art Schlagwortkatalog der Klaviermethodik
sozusagen... Diese Zielsetzung ist aber gerade nicht die Absicht der Autorin, vielmehr zielt ihre Arbeit wesentlich
darüber hinaus, soll sie doch Stellung beziehen, also nicht alles in neutraler Zurückhaltung im Raum
stehen lassen, was je zu diesem Thema geschrieben worden ist.
Zusammenhänge aufzeigen
So versucht sie stets die wahrhafteste Zielstellung der relevanten Zusammenhänge künstlerischen Klavierspiels
aufzuzeigen, die in praxi eine ganzheitliche Behandlung erfordern. Ihr Buch gerät dadurch zu einem Hauptwerk
der ganzheitlichen Klavierspielpraxis par excellence, darüberhinaus zu einem Werk der Kunst des richtigen
Klavierunterrichtens. Das exorbitante Expertenwissen der Autorin zeigt sich intensiv wie umfassend um korrekte
Aufhellung klaviermethodischer/-technischer Primär-Sachverhalte (Basistechnik) bemüht.
Die in Kapitel geordneten, klavierhandwerklichen Aspekte sind terminologisch korrekt benannt und entsprechen
in Inhalt und Form analog der körperlich ganzheitlichen Funktionskette beim Klavierspielen, ausgehend von
den großen Teilen (Rücken) zu den kleinen Teilen (Finger) und nicht, wie verhängnisvollerweise
üblich geworden, umgekehrt und dabei sogar unvollständig in der Summe aller Teile. In vielerlei Hinsicht
birgt dieses Werk ein Höchstmaß an brisantem Material in sich, was Klavierpädagogen und Konzertpianisten
nicht wenig angehen dürfte und über das in den Fachgruppen von heute und unter Klavierstudenten wenn
möglich, offen zu diskutieren sein wird. Dieses kolossal kluge Buch sei speziell Klavierpädagogen
(-professoren), Pianisten und Klavierstudenten wärmstens anempfohlen, da darin die lebendigsten Ideale
klaviermethodisch-technischen Denkens und Verstehens in ganzheitlicher Auswirkung auf Theorie und Praxis der
Klavierspielkunst äußerst klar, wie kaum zuvor, zur Sprache kommen. Deshalb muss man, wenn
man vom Klang spricht, auch von seinem Entstehen, das heißt von der Technik sprechen; wenn man von der
Technik spricht, muss man vom Klang sprechen, bemerkte schon Heinrich Neuhaus zum Thema. Und das tut dieses
Buch, welches ohne Zweifel als eines der Schlüsselwerke der Klaviermethodtik der Gegenwart
zu werten sein wird und demnächst in keiner Privatbibliothek des Pianisten, Klavierlehrern und Studenten
mehr fehlen sollte.
Zu Recht wird dem Werk derzeit schon die ungeteilte Aufmerksamkeit des Fachpublikums zuteil, also die der
klaviermethodischen Zirkel. In den Klavierfachgruppen der Musikschulen, Konservatorien, Musikhochschulen und
anderen Pianistenschmieden zeigte sich schon bereits vor der Drucklegung des Buchmanuskripts hohe Nachfrage
wie gespanntes Interesse hinsichtlich dessen inhaltlicher Brisanz. Denn gegenwärtig wird, immer noch und
fast überall, zu häufig zu den relevanten Fragen der Klaviermethodik/-technik sich ausgeschwiegen,
werden zentrale Themen mit Tabus belegt. Konstruktive und wirklich offene Diskussionen zum Thema Klavierspiel
und Körperbewusstsein scheiterten oft schon bereits im Ansatz, da sie in verantwortlichen Fachgremien
aus Unwissenheit allzugerne ignoriert wurden, einfach aus Desinteresse zu kurz kamen. Durch die Dominanz
von sich als rein wissenschaftlich gebärdenden Darstellungen des spieltechnischen vorgangs
geriet die seit jeher gültige Forderung nach gesamtkörperlicher Wahrnehmung der Spielbewegung theoretisch
wie praktisch in den Hintergrund. Physiologie war ja die große Mode (Martienssen, 1954), beschränkte
sich aber meist auf den Spielapparat Arm, Hand und Finger. Die daraus resultierende einseitige Terminologie
bestimmt bis heute das klaviermethodische Feld.
Manche klaviermethodischen Hauptvertreter taten sich nicht selten durch Aussagen wie gängige Thesen hervor,
deren alles beherrschende Termini (zum Beispiel die Gewichtstechnik) auf eklatanten klaviermethodischen
wie physiologischen Missverständnissen fußten, meist zu vage ausformuliert wurden und basistechnisch
offensichtliche Widersprüche, bereits in sich bargen, was für die praktische Entwicklung der Klavierspielkunst,
bis in unsere Gegenwart, nicht ohne gravierende Folgen blieb. In der Sache zog dies schon damals wie auch heute
die berechtigte Kritik verantwortlich denkender Klavierpädagogen auf sich.
Entwicklungsverlauf
Der Leser mitvollzieht nach nochmaligem Nachschlagen des Werkes den widersprüchlichen, folgenschweren,
durch defizitäre Rückschläge gekennzeichneten Entwicklungsverlauf der nun schon über 300-jährigen
klaviermethodischen/-technischen Entwicklungsgeschichte, eine für klassische Klavierspielpraxis unserer
Zeit nicht immer einfach zu verstehende oder gar leicht nachzuvollziehende Geschichtsentwicklung.
Das scheint sich jedoch mit der Herausgabe dieses dokumentatorisch fundamentalen Werkes nun gründlich
ändern zu können. Für die Veröffentlichung solch eines verantwortungsvollen Buchvorhabens
hätte wahrlich keine sachkompetentere Vertreterin aus den Reihen hellsichtiger Klaviermethodiker gewonnen
werden können, als die heute 75-jährige, stets mit brillantem Sachverstand für das Klavierspiel
im ganzheitlichen Sinne einstehende Klavierprofessorin und Klaviermethodikerin Elgin Roth. Sie gilt heute als
die Expertin in Sachen Elisabeth Caland, jener herausragenden Klaviermethodikerin, die vor über
einem Jahrhundert schon jener drohenden Entwicklung mehr als kritisch gegenüberstand und sieben epochal
zu nennende Schriften zur Klaviermethodik verfasste.
Hierzu aus dem Klappentext des Nachschlagwerkes von Elgin Roth: Die unter dem Aspekt gültiger kinästhetischer
Wertnormen zusammengestellten Zitate sollen interessierten Studenten und Pädagogen als Anregung dienen
für die allgemeine Erkenntnis des Grundgedankens, nämlich die Einbeziehung des ganzen Körpers
als funktionell einheitlich zu behandelnden Bewegungsapparates beim Spielvorgang. (Elisabeth Caland,
1910). Aus dem Vorwort erfährt der Leser, wie im thematischen Kontext mit den Zitaten verständig umzugehen
und zu verfahren ist.
Elgin Roths brillierendes Wissen kommt in ihrem Buch voll zur Entfaltung und dem interessierten Leser erschließen
sich fundamentale Zusammenhänge ohnegleichen. Das Nachschlagwerk, dessen Zitate als Originalbotschaften
kein Mehr an Aussagekraft mehr zulassen, steht auf dem allerneuesten Erkenntnisstand um die Dinge des Klavierspiels
(Schwerpunkt, Gleichgewicht, Koordination) und versteht es darüber
hinaus, das Detailwissen der alten Meister des Klavierspiels mit dem heutigen Wissen auf erhellende Weise wiederzuvereinen.
Es ist ein im höchsten Grade sensibilisierendes Werk, welches den immer mehr verloren gehenden Idealansprüchen,
die man an die heutige Klavierspielkunst und deren Ausbildung aktuell zu stellen hätte, gänzlichst
und aufs Überzeugendste gerecht wird.