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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 49
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Dossier: Musikbuch
aktuell & neue Noten
Ein Who is Who der letzten hundert Jahre Musikgeschichte
Die Universal Edition blickt auf ihr erstes Jahrhundert zurück · Von Christoph Schlüren
Als Nicolas Slonimsky, der bedeutendste Musikenzyklopädist des 20. Jahrhunderts und einst eminente Promoter
der amerikanischen Avantgarde, 1994 seinen 100. Geburtstag beging, veröffentlichte Richard Kostelanetz
eine Sammlung ausgewählter Schriften unter dem witzigen Titel The First Hundred Years. Die
menschliche Lebenserwartung ist bekanntlich begrenzt, im Jahr darauf starb Slonimsky. Bei Verlagshäusern
kann man eventuell in großzügigeren Zeiträumen rechnen. Als Wiens führender Musikverlag,
die Universal Edition, 75 Jahre alt wurde, bilanzierte der längstgediente Vorstand Alfred Schlee im Vorwort
zur Dokumentationsschrift:
Fünfundsiebzig Jahre sind kein nennenswertes Alter für einen Verlag. Wir glauben daher, vernünftig
gehandelt zu haben, wenn wir das Jubiläum nicht feiern wollen, zumal diejenigen, die mit Recht gefeiert
werden könnten, nicht mehr bei uns sind und über das, was ihre Nachfolger begonnen haben, erst am
hundertsten Geburtstag das Urteil gesprochen werden kann. Nun hat man also die ersten hundert Jahre hinter
sich, eine wie schon immer sehr ungewisse Zukunft vor sich, und das Urteil über die Nachfolger
bildet sich allmählich. Begonnen hatte es 1901 mit der großangekündigten Gründung einer
Aktiengesellschaft als österreichisches Konkurrenzunternehmen gegen die führenden deutschen Verlage
zur Herausgabe fundierter Klassikerausgaben, in welchem sich auf Initiative des Bankiers und Johann Strauß-Schwagers
Josef Simon Vertreter der führenden Wiener Musikverlage Doblinger, Robitschek und Weinberger zusammenschlossen.
Alfred A. Kalmus: Gründer der Universal Edition London. Foto: Archiv
Bald wurden die Rechte von wichtigen Werken Anton Bruckners, Richard Strauss und Max Regers von anderen
Verlagen erworben, und nach 4 Jahren umfasste der Katalog bereits 1400 Nummern. Historische Bedeutung erlangte
man durch das Eintreten Emil Hertzkas, der 1907 Direktor wurde und bis 1932 die Geschicke lenkte. Hertzka bewies
eine unglaubliche Nase für das kurz- wie langfristig Wegweisende, Eigentümliche, zeitlos Beständige,
das er in unerhörter Vielfalt zu entdecken und an sein Haus zu binden verstand. Dabei darf nicht übersehen
werden, dass bei aller avantgardistischen Euphorie das Hauptgeschäft zu jeder Zeit mit konventionellen
Artikeln, also Klassikern, Unterrichtsliteratur oder Unterhaltungsmusik (mit dem sogenannten Papiergeschäft)
gemacht wurde. Umso mehr erstaunt, in welchem Umfang hochwertigste neue Musik herausgebracht wurde, auf der
der Ruhm der Universal Edition geradezu als Inbegriff der Verbreitung der neuen Musik gründet. Natürlich
war man auch zur rechten Zeit am rechten Ort, spielte sich doch bis Mitte der dreißiger Jahre in Wien
Maßgebliches für den Werdegang der Musikgeschichte ab. Der erste große Vertragsabschluß
gelang Hertzka 1908 mit Gustav Mahlers Symphonie der Tausend, der das Lied von der Erde
und die Neunte Symphonie folgten. (Neuerdings hat man mit Rudolf Barschais Aufführungsversion der Skizzen
zu Mahlers Zehnter den als Ganzes wohl fesselndsten Rekonstruktionsversuch dieses unvollendeten Vermächtnisses
übernommen. Diese Partitur wird, baldmöglichst ergänzt durch eine ausführliche und übersichtliche
Darstellung sämtlicher Skizzen, demnächst veröffentlicht und bildet einen Schwerpunkt derzeitiger
Promotionaktivität.)
Dann kam Hertzka 1910 mit Arnold Schönberg und Franz Schreker überein, denen bis 1931 u. a. Alfredo
Casella, Alexander von Zemlinsky, Karol Szymanowski, Joseph Marx, Franz Schmidt, Frederick Delius, Emil Nikolaus
von Reznicek, Leos Janácek, Egon Wellesz, Béla Bartók, Walter Braunfels, Alois Hába,
Wilhelm Grosz, Felix Petyrek, Zoltán Kodály, Heinrich Kaminski, Ernst Krenek, Ottorino Respighi,
Darius Milhaud, Anton Webern, Alban Berg, Gian Francesco Malipiero, Hanns Eisler, Nikolai Mjaskowsky, Kurt Weill,
Josef Matthias Hauer, Arthur Honegger, George Antheil, Kurt Atterberg (nach dem triumphalen Erfolg seiner Sechsten,
der sogenannten Dollar Symphony), Erik Satie, Hanns Jelinek oder László Lajtha folgten.
Viele dieser großen Namen sind unvermeidlicherweise nur mit wenigen Werken vertreten, was im nachhinein
bedauerlich stimmt, weil sich jeder Verlag natürlich auf seine Hauptkomponisten, im Falle der
U. E. also zweifellos Mahler, Janácek, die Wiener Schule, Bartók, Schreker, Szymanowski,
Zemlinsky usw., konzentrieren muss.
So fristen die schönen Violinkonzerte von Respighi und Casella bis heute ein Schattendasein, die hochinteressant
am Scheideweg Bruckner-Schönberg angesiedelte Zweite Symphonie Eduard Erdmanns fand nie die verdiente Beachtung.
Dagegen sieht es zuletzt wieder besser aus für den Berliner Expressionisten Heinz Tiessen (1887-1971),
von dessen Werken sich nur eines im U.E.-Katalog findet, dafür gleich das womöglich bedeutendste:
das Streichquintett, auch als Musik für Streichorchester bearbeitet, welches in beiden Fassungen
auf dem Celibidache-Festival 2002 in München durch die vorzügliche Accademia Musicale di San Giorgio
aus Venedig unter Rony Rogoff aufgeführt werden wird und auch zur CD-Veröffentlichung vorgesehen ist.
So wird ein Schlüsselwerk des Repertoires wieder zugänglich gemacht, das bis dahin siebzig Jahre als
Archivleiche schlummerte. Und im U.E.-Archiv sind noch viele Entdeckungen zu machen, ob es sich nun um Werke
bekannter Autoren wie Schreker, Casella, Wellesz, Kaminski, Skalkottas oder Badings handelt oder um in den Zeitläuften
ganz Verschüttetes von Braunfels, Weigl, von Borck, Theodor Berger oder eben Erdmann und Tiessen.
Natürlich sind es die großen Opernerfolge durch Schreker, Janácek, Berg, Bartók, Delius,
Reznicek, Szymanowski, Krenek oder Weill, die den Verleger besonders glücklich machten und bis heute in
wechselnden Anteilen die Kassen klingeln lassen wobei der Wettlauf mit der Zeit (Vorstand
Marion von Hartlieb), also mit der 70-jährigen Schutzfrist nach dem Tod des Autors, längst begonnen
hat: Janácek, dessen Jenufa und Katja Kabanova in den letzten Jahren noch in
aufwändigsten und überfälligen Neuausgaben hergestellt wurden, ist vor drei Jahren public
domain geworden, bei Berg, Schreker, Respighi, Szymanowski und Schmidt laufen die Exklusivrechte in den
nächsten Jahren aus. Andererseits wird man auch dann noch an Namen wie Schönberg, Bartók, Webern,
Weill, Eisler oder dem langlebigen Krenek (der allerdings weniger abwirft), auf geraume Zeit zu
nagen haben.
Und man hat nicht geschlafen seit den Jahren des Aufbruchs, denen mit Weltwirtschaftskrise, Hertzkas Ableben
(1932), Zwangsarisierung und Krieg harte Zeiten folgten. Hertzka fand mit Hans Heinsheimer und Alfred A. Kalmus
(18891972), dem Vater der Philharmonia-Taschenpartituren, fähige Fortsetzer seines Kurses. 1936 ging
Kalmus aufgrund der trüben gesellschaftlich-politischen Aussichten nach London, wo er die dortige Universal
Edition gründete, die später mit Komponisten wie Harrison Birtwistle, Michael Finnissy, Simon Holt
oder David Sawyer zu einer ernst zu nehmenden Kraft im Königreich heranreifte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Alfred Schlee, der zum Hauptansprechpartner der Komponisten wurde und für
den erneuten Auftrieb vor allem verantwortlich zeichnete. Seit 1940 waren unter anderem Frank Martin, Theodor
Berger und Gottfried von Einem als neue Komponisten verlegt worden, und nun kamen bis 1962 neben vielen anderen
Luigi Dallapiccola, Olivier Messiaen, Nikos Skalkottas, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio,
Mauricio Kagel, Sylvano Bussotti, Harrison Birtwistle, György Ligeti und Friedrich Cerha hinzu fast
ein Whos Who der jüngeren Musikgeschichte, und einige von ihnen, darunter Boulez und Berio, wird
man für immer mit der Universal Edition assoziieren.
Oder Arvo Pärt, den man 1968 erstmals unter Vertrag nahm und der mit seiner Emigration in den Westen zu
einem zentralen Hauskomponisten geworden ist nicht zuletzt auch einer, der weltweit gefragt ist und von
Musikern aller Couleur und Klasse aufgeführt wird. Ein weiterer auf ähnliche Breitenwirkung berechneter
Hoffnungsträger ist der Argentinier Osvaldo Golijov, seit 1999 bei der U.E. Dabei hat man im avantgardistischeren
Feld nicht geschlafen und verlegte fleißig Feldman, Amy, Denisov, Schnittke oder Kurtág. Mit dem
jungen Wolfgang Rihm tat man 1975 erste Schritte in bis heute nicht abreißendes Neuland, und fraglos ist
der äußerst produktive Rihm als führender deutscher Komponist mit Exklusivbindung heute der
Hauptvertreter der Universal Edition in der Szene der Neuen Musik. Die U. E. ist, so Marion von Hartlieb, in
der zu achtzig Prozent von den ,Majors beherrschten Szene ein kleines Unternehmen, aber eigenständig.
Und so wollen wir bleiben. Zu den jungen Tonsetzern, die man in den letzten zehn Jahren aufgenommen hat,
gehören die Österreicher Georg Friedrich Haas und Johannes Maria Staud, Golijov und Sotelo, Georges
Lentz und der Litauer Vykintas Baltakas: Für neue Komponisten entscheiden wir uns heute im Team nach
eingehenden Beobachtungsphasen. Dieses Team aus vier bis fünf Leuten wechselt von Fall zu Fall, die Promotion-Abteilung
ist immer dabei. In der Regel tun wir für die Jüngsten am meisten, die müssen ja erst bekannt
werden. Zum Jubiläum hat man sich eine höchst erfreuliche Dokumentation großer Verlagsgeschichte
geleistet: Die legendären Musikblätter des Anbruch, die von 1919 bis 1937 erschienene
Monatsschrift für Moderne Musik, sind als CD-ROM wieder zugänglich für all jene, die aus authentischer
Quelle schöpfen wollen bis zum 31. Dezember zum Vorzugspreis von 39 Euro zu bestellen unter anbruchorder@universaledition.com.
Promotionschwerpunkte in absehbarer Zeit sind weitere kritische Janácek-Ausgaben (Sárka,
vervollständigter 1. Akt der Ausflüge des Herrn Broucek, Urfassung der Glagolitischen
Messe), die ins Stocken geratene Alban-Berg-Gesamtausgabe, kritische Mahler-Ausgaben, eine Neuausgabe
von Bartóks Wunderbarem Mandarin mit 48 zusätzlichen Takten oder Alte-Musik-Veröffentlichungen
wie das Requiem von Lotti.
Und natürlich die von Eric Marinitsch bereits ins Visier genommene nächste CD-ROM: Pult und
Taktstock, die von 1924 bis 1931 erschienene Fachzeitschrift für Dirigenten, nach der man auch über
Jahrzehnte hinweg vergeblich in Antiquariaten fahnden dürfte. Ob zurück oder nach vorne, ob Überraschung
oder verbürgter Wert, die Universal Edition bleibt eine erste Adresse.