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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 54
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Dossier: Musikbuch
aktuell & neue Noten
Flammendes Plädoyer
Was uns die Meisterwerke der Oper heute noch zu sagen haben
Attila Csampai: Sarastros stille Liebe. Ein Opern-Lesebuch. Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 2001,
336 Seiten.
Jetzt wissen wir also endlich, was in Donna Annas Zimmer zwischen ihr und Don Giovanni geschehen ist nichts.
Keine Anzüglichkeiten, kein erotisches Abenteuer. Und eine gewaltsam erzwungene Liebesszene schon gar nicht.
In seinem Aufsatz zu Mozarts Don Giovanni jedenfalls vertritt der Musikjournalist Attila Csampai
diese These. Das macht stutzig. Mozarts Verführer gilt doch als skrupelloser Triebmensch schlechthin! Allein:
Csampais Blick ins Libretto verrät anderes. Denn zu Beginn der Oper gesteht der Titelheld: [...]
heute macht sich der Teufel einen Spaß daraus, meine vergnüglichen Pläne zu durchkreuzen; sie
gehen alle schief. Damit ist natürlich auch die Verführung Donna Annas gemeint, so Csampai.
Es gibt für Don Giovanni keinen Grund, die Unwahrheit zu sagen.
Noch ein Beispiel? 1. Akt, Register-Arie des Leporello: Hier erfährt man, dass der Großteil von
Giovannis Opfern im katholischen Spanien zu finden ist: 1.003. In der weniger monogamen Türkei hingegen
waren es nur 91. Denn: seine erotischen Energien entfalten sich nicht primär im Geschlechtsakt, sondern
vorher: bei der magisch-sinnlichen Verzauberung seiner Opfer [...] Dies zu begreifen mag heute vielen von uns
angesichts unserer weitgehend sportlich-profanen Auffassung von Erotik schwerfallen.
Es sind Schlussfolgerungen wie diese, die Attila Csampais Opern-Lesebuch Sarastros stille Liebe
so spannend machen. Aber seien Sie gewarnt: Wer diese Essay-Sammlung zur Hand nimmt, sollte bereit sein, althergebrachte
Denk-Schablonen zumindest einmal zu überdenken. Egal ob Mozarts Zauberflöte, Le
nozze di Figaro und Così fan tutte liebevoll seziert werden oder ob Csampai Verdis
Traviata, Otello und Simon Boccanegra unter die Lupe nimmt immer
findet er wohltuend unorthodoxe Zugehensweisen jenseits üblicher Klischees. Deshalb kommt es auch für
den passionierten Opern-Freak immer wieder zu Aha-Erlebnissen, die eines klar machen: Der Autor
sucht, was die alten Partituren mit der Gegenwart verbindet. Was geht uns das alles heute noch an?
ist eine Frage, die Csampai oft im Hinterkopf gehabt haben dürfte. Nur so ist zu erklären, dass seine
Analysen immer wieder brennende Aktualität gewinnen.
Zum Beispiel ist Webers Freischütz für ihn eine Parabel für etwas, das jeder kennt:
Prüfungsangst. Nur aus Furcht zu versagen, verschwört sich Max mit dem Bösen: Es bleibt
ihm gar nichts anderes übrig, als sich mit den dunklen Mächten des Irrationalen zu verbünden,
um seine im Rahmen der rationalen Weltordnung aussichtslose Position entscheidend zu verbessern. Das ist das
Grundmotiv des Dr. Faust und aller anderen späteren gespaltenen Karrieristen und Weltverbesserer von Dr.
Jekyll bis Batman. Der Hohepriester Sarastro hingegen wird als Sklavenhalter und Despot entlarvt,
als Karikatur des idealisierten Bürgers an der Macht. Und Verdis Traviata findet
ihre realen Nachfolgerinnen in Marylin Monroe, Brigitte Bardot und Nastassja Kinski.
Solch respektlose Vergleiche mögen subjektiv wirken. Sie sind es nicht. Die 20 Aufsätze haben nämlich
eines gemeinsam: Ihre oftmals frappierenden Fakten stützen sich auf nachweisbare Quellen. Sei es der Briefwechsel
des Komponisten, wie im Falle von Tschaikowskys Eugen Onegin. Seien es historische Fakten, die Generationen
von Interpreten übersahen. Doch die Textbücher werden stets auch in Kombination mit der Musik untersucht.
Gerade im Kapitel über die Opern Mozarts, dem Herzstück des Buches, führt das zu messerscharfen
Schlussfolgerungen. Sie entwerfen spannende Beziehungsgeflechte zwischen den Protagonisten, entwirren ihre komplexen
Verhaltensmuster. Das alles lässt sich dann anhand der beigefügten Diskografie hörend nachvollziehen.