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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 55
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Dossier: Musikbuch
aktuell & neue Noten
Wenn weiße Männer ins Blaue singen
Unverzichtbar: Carl-Ludwig Reicherts Geschichte des Blues
Carl-Ludwig Reichert: Blues. Geschichte und Geschichten. Mit Audio-CD, dtv, München 2001
Freak Out!, so hieß 1966 ein Doppelalbum von Frank Zappas The Mothers of Invention,
das auf Verve-MGM erschien, und das zum Klassiker werden sollte. Die Ur-Mutter des Dada-Rock zitierte
darauf die Namen ihrer Blues-Helden: Lightnin Slim, Johnny Guitar Watson, Slim Harpo, Howlin
Wolf, Willie Dixon, Muddy Waters, Johnny Otis et cetera. Kreuz- und Querverweise schmückten das Cover und
öffneten einer ganzen Generation ein neues Universum.
Zappa heißt auch das Sesam-öffne-dich-Wort für den Ingolstädter Musiker (Sparifankal),
Schriftsteller und Privatgelehrten Carl-Ludwig Reichert, der einst wie sein postmoderner
Kollege Thomas Meinecke (Tomboy) in der öffentlich-rechtlichen Talentschmiede des Bayerischen
Rundfunks angefangen hat. Das sollte man beim Lesen dieser essenziellen Geschichte des Blues im Hinterkopf behalten:
es ist Zappas humorvoller und streitbarer Geist, der über dieser labor of love schwebt.
In Zeiten, in denen der Blues immer mehr zum gelackten lifestyle-Soundtrack verkommt, muss wieder
einmal daran erinnert werden: der Blues ist die Wurzel aller anglo-amerikanischen populären Musik. Er
hat Geschwister in Afrika, Brasilien und Hawaii und er hatte ein Baby, das nannte man RocknRoll.
Siehe Chuck Berry, Elvis Presley, Rolling Stones & Co. Den Blues ziert keine illustre Verwandtschaft,
aber zu ihm gehören ehrliche Leute. Viele seiner Abkömmlinge gingen ins Show-Business: Boogie, Rhythm&Blues,
Dixieland, Skiffle, Blues-Rock. Einige studierten und wurden Intellektuelle: Jazz, Free Jazz. Andere zogen in
die Metropolen und modernisierten ihn: Soul, HipHop, Rap. Inzwischen taucht er manchmal sogar als Sample bei
Moby oder in Techno-Stücken auf.
Der Blues sei schwer zu fassen, meint der Autor: Nimmt man ihn zu eng, rutscht er zwischen den Fingern
durch; definiert man ihn zu breit, landet man bei Sprüchen wie ,Ois is Blues; legt man ihn einseitig
auf Gefühl, Protest oder Unterhaltung fest, macht er sich aus dem Staub. Aller Wahrscheinlichkeit nach
ist der Blues eine besondere Haltung der Musik, der Welt, Gott und Teufel, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber.
Vor allem aber ist der Blues die Matrix afroamerikanischen Lebens, wie Houston A. Baker feststellt:
Die Blues sind eine Synthese... Sie vereinigen Work Songs, weltlichen Gruppengesang, Field Hollers, geistliche
Harmonien, sprichwörtliche Weisheiten, volkstümliche Philosophie, politische Kommentare, schlüpfrigen
Humor, elegische Klagen und noch viel mehr, sie stellen ein Gemisch dar, das in Amerika immer in Bewegung gewesen
zu sein scheint und das die besonderen Erfahrungen von Afrikanern in der Neuen Welt ständig ausgebildet,
geformt, verformt und durch neue ersetzt hat.
Die alte Frage, ob Weiße überhaupt den Blues singen können, beantwortet der kämpferische
Reichert am Ende seiner langen Blues-Odyssee mit einem klaren Jein. Blues sei erst einmal eine Charakterfrage:
Zu brave, zu bürgerliche, zu akademische Musiker sollten lieber gleich die Finger davon lassen. Konformisten
gehören ins Sinfonieorchester, Hochleistungssportler in eine Rock-Arena, Tüftler ins Studio, Sammler
auf die Flohmärkte, Experten ins Museum, Leichenkosmetiker auf den Friedhof, leibhaftige Blues-Musiker
an die Straßenecke oder in die Wirtschaft. Der Prototyp eines weißen Blues ist freilich 1969
in einem Studio entstanden: der gruselige Dachau Blues des Zappa-Spezis Captain Beefheart. Es klang,
als sei Robert Johnson aus der Hölle zurückgekehrt. Und vom Mississippi-Delta nach Dachau war es plötzlich
nur noch ein Katzensprung. Reichert nennt das exzentrisch-zutreffend Blues des 22. Jahrhunderts.