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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 5
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Feature
Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre
Marlene Dietrich zum 100. Eroberung der Welt in sieben Liedern · Von Viktor Rotthaler
Neben Mackie Messer war das der große Gassenhauer des Jahres 1928 in Berlin: Mischa Spolianskys &
Marcellus Schiffers Lesben-Nummer Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin... Gemeinsam mit
Schiffers Ehefrau, der giraffenhaft-geschmeidigen Margo Lion, und Oskar Karlweis sang Marlene Dietrich den Hit
aus der Kaufhaus-Revue Es liegt in der Luft.
Als Marie Magdalene Dietrich am 27. Dezember 1901 in Schöneberg geboren, war sie plötzlich der Liebling
der Säsong. Theaterkritiker Herbert Jhering zeigte sich beeindruckt von ihrer delikaten
Haltung und müden Eleganz. Zu verdanken hatte sie diesen ersten Karrieresprung der Hartnäckigkeit
des Komponisten Mischa Spoliansky. Ein dünner junger Mann saß am Klavier, umgeben von fünf
anderen Musikern, erinnert sich Marlene dankbar in ihren Memoiren an das Vorsprechen für diese Spoliansky-Revue:
Er schlug den Ton an, gab mir das Zeichen zum Beginnen. Die Tonlage war sehr hoch. Aus meiner Kehle kam
ein armseliger kindlicher Laut, der mehr heiße Luft als Stimme war. Der Regisseur rief: Halt! Die
nächste! Herr Spoliansky stand auf und rief: Vielleicht sollten wir es noch einmal versuchen.
Ich werde die Tonlage tiefer nehmen. (...) Mischa Spoliansky änderte die Tonlagen immer wieder, bis
ich endlich zum allgemeinen Erstaunen (meines inbegriffen) gute, volle Töne zuwege brachte... und ich hatte
die Rolle. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und einer großen Karriere als Schauspielerin
und Diseuse. Denn in einer anderen Spoliansky-Produktion, Zwei Krawatten, wurde sie 1929 im Berliner
Meer von Josef von Sternberg entdeckt. Als ordinäre Schwester von Wedekinds Lulu hatte sich
Svengali Jo seine Lola-Lola vorgestellt, und nun war sie ihm in Fleisch und Blut begegnet: Sie
hatte kaum etwas auf der Bühne zu tun, und man sah wenig von ihr. Aber es war das Gesicht, das ich suchte...
Außerdem besaß sie etwas, was ich nicht erwartete, und das verriet mir: die Suche war beendet. Sie
lehnte sich mit kalter Verachtung für die grotesken Possen an die Kulissen.
Im Blauen Engel
Teatime in Hollywood: Marlene mit dem Regisseur Rouben Mamoulian
Die Geburt des deutschen Tonfilms aus dem Geist des Tingeltangel: Josef von Sternbergs Der blaue Engel,
nach dem Roman Professor Unrat von Heinrich Mann. Ein Schimmel machte die Kaschemmen-Sirene
Marlene Dietrich und ihren Komponisten Friedrich Hollaender 1930 über Nacht weltberühmt: Ich bin von
Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt... Beide sollten mit dem English Waltz ihr Leben lang identifiziert
werden. Marlene hing der Gassenhauer bald zum Halse heraus. Sie könne das nicht mehr hören, empörte
sie sich in ihrem letzten großen Interview mit Maximilian Schell: Ich bin von Kopf bis Fuß,
ich meine wirklich, lächerlich. Auf alle Fälle, da sitze ich da auf der Tonne, nicht, und das ist
überall, und die Bilder kann man kaufen, und alle sind verrückt danach, und dann sind da die Imitatoren,
ist das deutsch, die Imitatorinnen, und die machen mich nach da, und da sitzen wir auf der Tonne da, mit den
Beinen hoch, und ... lächerlich. Die Liste der Interpreten, die das Lied, das als Falling In
Love Again um die Welt ging, sangen, ist ellenlang: Greta Keller, Zarah Leander, Billie Holiday, The Beatles,
Sammy Davis jr., Udo Lindenberg, Brian Ferry...
Das schönste aller Hollaender-Lieder entstand noch 1930 während der Blauen Engel-Phase.
Und es war Marlene, die den Meister dazu inspiriert hat, wie Manfred Georg berichtet: In einem Filmatelier
hatte Hollaender gesessen, kurz bevor Marlene Dietrich nach Hollywood fuhr. Kalter Tag und Nebel draußen.
Sie war in einer Pause hereingekommen, hatte die pappenen Dekorationen beklopft, auf das Gebrüll der Regisseure
in den anderen Teilen der Halle gehorcht und war sehr müde gewesen. Da hatte sie vor sich hingesummt Wenn
ich mir was wünschen dürfte. Und Hollaender war von der Traurigkeit ihrer Stimme so gepackt
worden, dass er im gleichen Augenblick noch dieses Lied schuf. Ein Seufzer wurde zur Melodie, wie so oft
bei Hollaender seit seinen Schall und Rauch-Tagen. Auf der Electrola-Platte habe man Marlene stimmlich
und menschlich konzentriert, meint Georg: Da sind diese gaminhaften, hellen Obertöne, der berlinisch-sentimentale
Klang, der trotz aller mitschwingenden Gefühlsverdunkelung klar und fest ist, da ist dieser angerauhte,
schleifende Ton sinnlichster Einfühlung und in seinem plötzlichen Sichfallenlassen in die Tiefe jenes
Schluchzen, das sich überraschend auftut und das nicht auszuloten ist. Marlene spielte das Lied Franz
Hessel während ihres letzten Deutschlandbesuchs im Winter 1930/31 auf dem Grammophon vor. Hessel, dessen
Liebesgeschichte von Truffaut auf der Leinwand verewigt worden ist (Jules et Jim), hat diesen magischen
Moment als Visionär erlebt: Und weiter sang das Lied von dem Heimweh nach der Traurigkeit mitten
im Glück. Da stand sie, die große Wunscherfüllerin, der Traum der Tausende, den Kopf seitlich
geneigt zu ihrem Echo im Kasten, und hatte einen Ausdruck von Melancholie und Einsamkeit im Gesicht, aus dem
die Dichter, Musiker und Filmregisseure noch viel Neues zu lernen und zu schaffen haben werden.
Boys in the Back Room
Nach der Trennung von ihrem Svengali Josef von Sternberg, der sie zum Paramount-Star geformt hatte,
wurde Marlene in Hollywood zum Kassengift erklärt, bis sie 1939 mit der Westernkomödie Destry
Rides Again an der Seite von James Stewart ein Comeback erlebte. Eingefädelt wurde dieses von einem
Berliner Triumvirat: Produzent Joe Pasternak, Autor Felix Jackson und Friedrich Hollaender. Ursprünglich
hatte die Saloon-Sängerin, die Marlene verkörpern sollte, Angel geheißen. Was lag
also näher, als sie mit der Dietrich zu besetzen. Sternberg hat ihr zu dieser Rolle sogar geraten: Ich
habe dich als unantastbare Göttin auf ein Podest gestellt. Pasternak will dich in den Schlamm hinab zerren
... eine gütige Göttin zum Anfassen, mit Füßen aus Ton eine ausgezeichnete Verkaufsstrategie.
Und so war die neue Marlene geboren: Frenchy, das singende Flittchen. Wie sie The Boys in
the Back Room präsentiere, das sei ein größeres Kunstwerk als die Venus von Milo
schwärmte die New York Post. Große amerikanische Kunst: Tingeltangel im Wilden Westen.
Während des Zweiten Weltkriegs hat Captain Dietrich den schmissigen Honky-Tonk-Schlager vor
Hunderttausenden von GIs zum Besten gegeben. Ihre Zeit bei den Soldaten im Kampf gegen die Nazis sei die glücklichste
ihres Lebens gewesen, hat Marlene später gestanden. 1944 hat sie die Boys sogar auf deutsch besungen: Ja,
gib doch den Männern am Stammtisch ihr Gift.
Ganz verloren singt Marlene 1947 in Amerika wieder ein deutsches Lied, das einst Friedrich Hollaender in den
frühen Dreißigern für Anna Sten komponiert hat, und das Erinnerungen weckt an ihre Pariser Sessions
im Sommer 1933, als sie Franz Wachsmanns & Max Colpets wehmütiges Chanson Allein in einer großen
Stadt aufnahm. Noch ganz unter dem Eindruck des Verlusts der Mutter und des letzten Geliebten Jean Gabin
bekennt sie: Ich glaub, ich gehöre nur mir ganz allein. Ganz allein in der großen Stadt Paris
hat sie im Dezember 1945 an einen anderen Gefährten, Erich Maria Remarque, geschrieben: Ich schreibe
dir weil ich plötzlich akute Sehnsucht habe nicht die, die ich sonst habe. Vielleicht brauche ich
Leberwurstbrote, den Trost der Betrübten und seelische Leberwurstbrote. Paris ist in grauem Nebel
ich sehe kaum die Champs Elysées. Ich bin durcheinander und leer und ohne Ziel.
Kein Herumlaufen mehr nach Lebensmitteln und Fliegern, die nach Berlin fliegen keine Sorge mehr um meine
Mutter um sie durch den Winter zu füttern. Und ich weiß nicht wo ich sein soll... Ich bin
nicht in der Kreuzstichhandarbeiten-Ruhe! habe mich aufgelehnt und um mich geschlagen, (nicht immer mit den
fairsten Mitteln) und habe mich frei-gehauen und sitze nun in der Freiheit allein und verlassen in einer fremden
Stadt. Und finde deine Briefe! Und schreibe dir ganz ohne Grund. Sei mir nicht böse. Ich habe Sehnsucht
nach Alfred, der schreibt: Ich dachte Liebe ist das Wunder, dass zwei Menschen zusammen viel leichter
sind als einer allein wie Äroplanes. Ich dachte das auch. Dein zerfetztes Puma.
1948 lässt Billy Wilder in A Foreign Affair Marlene bei der Paramount noch einmal in den
Blauen Engel zurückkehren. Freilich musste das bekannte Etablissement nach dem verlorenen Krieg
seinen Namen umändern. Lorelei heißt der Club jetzt, und es verkehren darin hauptsächlich
die Besatzer von Berlin, Amerikaner und Russen. Lola-Lola hat sich selbst geadelt, wie einst der Österreicher
Josef von Sternberg. Als Erika von Schlütow stellt sie sich den Boys in den Ruinen von Berlin vor. Begleitet
wird sie dabei ein letztes Mal auf der Leinwand von ihrem treuen Katerkopf Hollaender am Klavier. Illusions
erinnert in seiner grenzenlosen Leidenschaft für das Unglücklichsein an Wenn ich mir was wünschen
dürfte. In diesem verrückten Leben sei man verliebt in den Schmerz, singt Marlene, die am Ende
ihres Lebens Hellmuth Karasek ihre Liebe zu Wilder gestand: Ich habe ihn geliebt, aber leider haben wir
das zu spät gemerkt.
Just a Gigolo
Anfang der 50er-Jahre wurden die Filmangebote seltener und Marlene startete eine zweite Karriere als Sängerin
und Entertainerin. Zu ihrem ständigen musikalischen Begleiter wurde bald ein Mann, der sich in den Sixties
zum König Midas des Pop entwickelte: Burt Bacharach. Nach Hollaender und Sternberg hatte sie
ihren dritten Komplizen gefunden, der sie ein letztes Mal formte. Standards von Cole Porter und Harold Arlen
und die alten Berliner Lieder kleidete Bacharach für Marlene musikalisch neu ein. Mit dem Anti-Kriegslied
Sag mir, wo die Blumen sind gelang dem Traumteam Anfang der 60er-Jahre sogar in Deutschland
ein Single-Hit. Und das, obwohl sie hier zu Lande noch 1960 während ihrer Tournee als Vaterlandsverräterin
beschimpft worden war. Nach einem Bühnenunfall zog sich die Dietrich Mitte der 70er-Jahre in ihre Pariser
Matratzengruft zurück, wo sie am 6. Mai 1992 sanft entschlafen ist. Bevor sie in Maximilian Schells Dokumentation
Marlene zur puren Stimme des Mythos geworden war, hatte sie 1978 noch einen letzten Auftritt vor
der Kamera absolviert. In der deutschen Produktion Schöner Gigolo, armer Gigolo war sie neben
Blow up-Star David Hemmings und David Bowie zu sehen. Noch einmal stimmte sie ein Lied aus einer
Zeit an, als die Welt noch jung war für sie, den Roaring Twenties. David Hemmings erinnert sich: Wenn
die Leute heute hören, wie Marlene das Titellied singt, denken sie, das Lied beziehe sich auf Marlene,
vor allem die letzte Zeile, dass das Leben ohne sie weitergeht. Aber darum ging es ihr überhaupt nicht.
Wenn sie auf etwas ansprach, dann war es der deutsche Text, der mit den Worten endet: man zahlt, und du musst
tanzen. Das war es, was sie tat: Sie tanzte noch immer, nach all den Jahren. Aber mit welch majestätischer
Würde!
Die Essenz: 100 Lieder aus fünf Jahrzehnten. Klassiker und unveröffentlichte Raritäten
von der Besten Freundin bis zu Just A Gigolo.
DVD
Der blaue Engel (BMG Video in Kooperation mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, der Transit-Film
GmbH und dem Filmmuseum Berlin Deutsche Kinemathek) Josef von Sternbergs & Friedrich Hollaenders
Meisterwerk.
Bücher
Sag mir, daß Du mich liebst.... Erich Maria Remarque Marlene Dietrich. Zeugnisse
einer Leidenschaft, hrsg. von Werner Fuld und Thomas Schneider, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001
Herzzerreißender Briefwechsel.
Werner Sudendorf: Marlene Dietrich, dtv, München 2001
Kompaktes Porträt der Weltbürgerin. Unentbehrlich für Neueinsteiger.
Marlene Dietrich, hrsg. von Peter Riva und Jean Jacques Naudet. Mit Kommentaren von Maria Riva, Nicolai
Verlag, Berlin 2001
Das Fotobuch der Säsong.
Linde Salber: Marlene Dietrich. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001
Sehr brauchbare rororo-Monografie mit kleinen Fehlern.
Ausstellung
Marlene Dietrich: Forever Young. Bis 17. Februar 2002 im Filmmuseum Berlin. Mit Filmretrospektive im
Arsenal-Kino.
Rundfunk
Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre Lange Nacht zu Marlene Dietrich am 21. beziehungsweise
22. Dezember im Deutschlandradio/Deutschlandfunk.
... ich gehöre nur mir ganz allein. Szenischer Dialog aus Dokumenten und Liedern von
Hans Bräunlich, Live-Sendung am 26. Dezember, Koproduktion des Bayerischen Rundfunks, des Hessischen
Rundfunks, des Mitteldeutschen Rundfunks und des Hebbel-Theaters Berlin.