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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 24
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Hochschule
Weltmusik auf dem Weg in die Milchstraße
Zum geplanten Aufbaustudiengang Interkulturelle Musikforschung in Hamburg
Im Sommer 1997 wurde der Münchner Komponist Peter Michael Hamel als Nachfolger György Ligetis auf
den Lehrstuhl für Komposition/Theorie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg berufen. Sein Hauptziel
bei der derzeitigen Studienreform (in einer Kommission unter anderem mit seinen Kollegen Wolfgang A. Schultz
und Manfred Stahnke) ist die Verankerung von Aufbaustudiengängen, neben Multimedia, Computermusik und angewandter
Medienkomposition vor allem ein Improvisationspraxisbezogenes Studium traditioneller ethnischer
Musikkulturen. Für die neue musikzeitung gibt Hamel einen Ausblick auf diesen Aspekt seiner Pläne.
Seit vier Jahren geht es für mich an der Hamburger Musikhochschule um die altchinesische Weisheit, nur
das verändern zu wollen, was änderbar ist, und auf dem Weg in die Milchstraße John Cage zu beherzigen:
to try the impossible... Zuerst war da natürlich das Abenteuer des persönlichen Kompositionsunterrichts,
der Aufbau einer Hauptfach-Klasse. Außerdem galt es, Projekte hochschulfachbereichsübergreifend in
Gang zu setzen, die das Ansehen der neuen Musik innerhalb und außerhalb des Hauses anheben könnten.
Nicht nur die 20 angehenden Komponisten/-innen und Theoretiker/-innen werden hier einbezogen, eingeladen, alles
ist auch für Schulmusik, Pädagogik, Gesang, Theater, Musiktherapie und die Instrumentalisten offen.
Im Vordergrund einer solchen offenen Klasse steht das learning by doing auf den Gebieten:
Angewandte Musik/Medienkompo-sition,
Akustische und multimediale Kunst,
Improvisationsformen/Stehgreif-spiel/Experimentelle Projekte,
Begegnung mit so genannter außereuropäischer Musik.
Die Schubladen der world music müssen groß sein:
Momentaufnahme von der Hamburger Nacht der Improvisation. Foto: Frank Maring
Immer wieder ging es dabei auch um den heilenden Aspekt von Musik. Kunst ist ja Therapie, sagte
zwar Josef Beuys, aber der Hochschulalltag sieht anders aus: Wer es psychologisch am nötigsten hätte,
wehrt sich womöglich am stärksten gegen alles Heilerische. Gesundsein ist doch gesoundet
sein, nicht umsonst sprach ich bereits in meiner Antrittsvorlesung (Ein neuer Ton) vom Akkordbad
des Harmonikers Hans Kayser. Mit der großen Begegnung, wie Jean Gebser es in seiner Asienfibel
nannte (Asien lächelt anders), mit zunehmender Erfahrung und dem Kennenlernen ethnischer Traditionen
wird uns dieser heilende Aspekt der Musik wieder bewusster, der in mythisch-magischen Kulturen selbstverständlicher
Bestandteil des sozialen Kontextes war. Ist der Heiler, der Schamane doch stets auch ausübender Musiker
gewesen! Einer kommerziell orientierten Musik, um zu habe ich jedoch niemals das Wort geredet, Lebenshilfe-Gedudel
zum Entspannen ist nicht intendiert, denn Kunst und auch stimmiges Musizieren hat keine gerichtete, spekulative
Absicht. Und wer meditiert, hört sowieso keine Musik...
Ende der 60er-Jahre als Kompositionsstudent der Münchner Musikhochschule war ich mit meiner Multimedia-
und Weltmusikbegeisterung in einer guten (und kleinen) Gesellschaft, aber Karlheinz Stockhausen gelangte in
seinen Alleinvertretungs-Anspruch, und Jazz meets the world geriet in neoreligiöse Händlerhände
und zur New-Age-Verflachung. Meine ersten Multimedia-Live-Erfahrungen mündeten damals in die Gründung
der Rockgruppen Amon Düül und Embryo, und ich erinnere mich lebhaft an die
Musica-Electronica Viva-Auftritte 35 Jahre später besuche ich einen professoralen Workshop der Hamburger
Wissenschaftsbehörde mit dem Thema Multimedia und E-learning, welche Wege doch Wörter
machen, welchen Bedeutungswandel! Weltmusik, Anfang der 70er-Jahre noch eine abwertende Invektive der Experten
(Allerweltsmusiker) für Neokolonialismus unterstellende Versuche von Akkulturation und Anwandlung.
Da dominierte (noch) die euro- und ethnozentrische Arroganz bei den Uni- und Hochkultur-Funktionären. Inzwischen
ist world music von der internationalen Unterhaltungsindustrie gekapert worden. Weltmusik und ethnisch-traditionelle
Produktionen sind schallplattenpreiswürdig und Ligeti rät uns im Juni 1998 zum Verzicht auf das Wort
Weltmusik. Siemens-Preisträger Reinhold Brinkmann überraschte nun in der Süddeutschen Zeitung
vom 31. Mai 2001 mit folgendem Postulat: Gott sei Dank ist der Eurozentrismus in der westlichen Kunstmusik
vorbei [...]. Das globale Konzept muss eine Weltmusik sein.
Mit diesem Begriff verbinden sich manche wichtige und aufregende Forschungs- und Unterrichtsinitiativen, wenn
ich nur an Wolfgang Martin Strohs Eine Welt Musiklehre an der Uni Oldenburg denke oder an die anthropologischen
Konzepte meines Hamburger Musikwissenschaftskollegen Hanns Werner Heister. Auch die von Ligeti ausgehende Beschäftigung
mit alternativen, nicht temperierten Stimmungen und Skalen von Manfred Stahnke (Europa und
Ethnik) kann Ausgangspunkt für einen Aufbaustudiengang Interkulturelle Musikforschung
sein. Seine Basis könnte er im Aschauer Hamel-Haus haben, das als Institut für interkulturelle
Musikforschung und ethnisch-traditionelle Musizierpraxis die Bereiche Harmonikale Grundlagenforschung, Atemarbeit
und Akustische Kunst, Medien und Meditation, Ethnomusikologie und Ekstase sowie ein Laboratorium des Hörens
und der Stimme zum Schwerpunkt hat. Orale Traditionen und unsere buchstäbliche Augen-Dominanz müssten
thematisiert werden, der sozial-gesellschaftliche und anthropologische Kontext der verschiedenen Ethnien müsste
studiert werden. Ein Symposium Musik und Spiritualität ist in Planung.
Hochschulmühlen mahlen langsam: Seit 1998 ist eine Kooperation mit der Uni Oldenburg in interkultureller
Angelegenheit im Gespräch, im Juni 2001 fand ein Erfahrungsaustausch mit dem Arbeitskreis Interkulturelles
Leben der Hamburger Patriotischen Gesellschaft statt, im November ein interkulturelles Festival eigenarten
(zum zweiten Mal) und im Sommer 2002 wird eine riesige Interkulturelle Klangnacht in allen Räumen
der Hochschule stattfinden. Steht hier schon bald das nächste Wort zur Vermeidung an? Auf die Journalistenfrage
an den schwedischen Bassisten Jonas Hellborg, ob sich bei ihm die Schublade Weltmusik öffnen
ließe: Jeder versteht etwas anderes darunter eine Definition wäre vielleicht: Musik,
die improvisiert ist. (Morgenpost 28. Mai 2001). Die Hamburger Nacht der Improvisation, ein
Haus voller Musik mit bald hundert Mitwirkenden und über 800 Besuchern im vergangenen Juni machte jedenfalls
Mut, John Cages Wahlspruch weiter im Ohr zu haben: to try the impossible...