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nmz-archiv
nmz 2001/12 | Seite 39
50. Jahrgang | Dez./Jan.
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Zeitlos
Die wiedergefundene Zeit Marcel Prousts ist unendlich dicht. An jedem Ort gespenstert es, weil
das auslösende Ereignis andere in Erinnerung ruft, weil jedes Gefühl und jeder Gegenstand Teil nicht
nur einer, sondern vieler Geschichten ist. Was die Gegenwart zum Leuchten bringt ist die Vergangenheit: noch
das scheinbar banalste Vorkommnis wird zur Pforte des absoluten Glücks und des totalen Schreckens. Etwas
Neues beginnt, indem etwas Altes, das man gewohnt war und das man geliebt hat, aufhört. Peter Bogdanovich
erzählt in seiner legendären Last Picture Show, wie in einer staubigen Kleinstadt irgendwo
in Texas in den 50er-Jahren das Kino verschwindet, weil sich das Fernsehen in den Zimmern, aber auch in den
Leben und in den Herzen breit macht. Es ist ein wehmütiger Film; wie alle, die von Verlust und Abschied
handeln. Und es geht noch um eine zweite Passage: nicht nur die von der großen Leinwand zum kleinen, aber
allgegenwärtigen Bildschirm, sondern auch die von der Grenzenlosigkeit und Unschuld der Jugend zu einem
Erwachsenenleben, das immer schon festzustehen scheint, weil ihm Sünde und Kalkül eine klare Kontur
verleihen. Das Wichtigste und Erschütterndste an Bogdanovichs Film war sein Soundtrack: diese endlose Folge
herzzerreißend-melancholischer Hank Williams-Songs, die schon damals, Anfang der 70er-Jahre, in einer
völlig anderen Umgebung, so verschollen und so ergreifend wie nur möglich schienen. Wenn dieser Cowboy
jodelte und sein trügerisches Herz beschwor, dann wurde selbst der abgebrühteste Post-68er-Student
auf magische Weise mit ihm eins.
Jetzt ist, nach so vielen anderen Tributes an große Vorbilder und andere Zeiten Hank
Williams Timeless (bei Universal) wie schon immer und für immer da. Der Titel ist Programm:
es geht nicht um ein nostalgisches Beschwören dessen, was war, sondern um die Gegenwärtigkeit dieser
Songs. Und es ist verblüffend, wie dieses Hank Williams-Universum, in dem words&music, Sound und Stimme
untrennbar verbunden scheinen, mit einem Mal auf wunderbare Weise brüchig wird und neue Schönheiten
und Schrecken aus sich entlässt. Wie tiefschwarz Hanks düstere Bekenntnis-Ballade Im so
lonesome I could cry eigentlich ist, erfährt man in Keb Mos Version: in der vollkommenen Einsamkeit
schwindet am Ende auch der Lebenswille; und diese Verlorenheit ist nie nur Naturereignis, sondern immer auch
soziales Schicksal, sehr voraussetzungsreich. Jedes Leben ist voller fataler Fallen. Und manchmal kann man ihnen
nicht entgehen.
Im Fall der Fälle hilft ein Perspektivenwechsel: Was geschieht mit dem Long Gone Lonesome Blues,
wenn er aus dem Mund einer Frau kommt. Sheryl Crows Verzweiflungs-Jodel ist vielleicht noch virtuoser, aber
natürlich auch ein wenig kokett und apart. Und man spürt durch den veränderten Kontext, dass
Hank Williams erbarmungsloses Wühlen in der Wunde nicht frei von Selbstgerechtigkeit und Outlaw-Machismo
ist. Aus Bob Dylans Mund wird I cant get you off my mind zur vital-rumpelnden Selbsterklärung
und passt fast nahtlos zu Sound&Stories seines jüngs-ten Albums. Der unüberbietbare Beck macht
aus dem cheatin heart ein fragiles Loser-Lied in ureigener Tradition. Am getreuesten
klingt Hank Williams, sieht man einmal von Hank III ab, bei den großen Country-Ladies Emmylou Harris und
Lucinda Williams. Alone and forsaken, das ist eines der everlasting-Verlustepen, bei denen am Ende
vielleicht nicht einmal der Herrgott, der um Verständnis angerufen wird, weiterhelfen kann.
Was man beim Anhören dieses unverzichtbaren Samplers noch lernen kann: wer und was alles seine Wurzeln
bei Hank Williams hat oder zumindest zu haben meint: Tom Petty, Keith Richards, Ryan (nicht Bryan) Adams und
sogar Mark Knopfler. Und das Ende gebührt natürlich dem großartigen Johnny Cash, der immer mehr
mit sich selbst und allen seinen Vorgängern verschmilzt. Zeitlos, wenngleich auf andere Weise, ist das
neue Album der beautiful freaks alias The Eels. Auch sie schienen nach ihren Mitt-90er-Triumphen
fast schon verschollen. Jetzt sind sie zurück: als Souljacker (Motor Music), mit einer vertrackt-verspielten
Hardrock-Variante voller Energie und voller Referenzen. Seelen-Stehlen ist das eine. Das andere,
schwierigere Geschäft ist vermutlich der Transfer der minds und sounds, den Frontmann
E und seine Kombattanten hier besorgen. Zusammenarbeit heißt die Devise: Einheit und Vielfalt. DJ Killingspree,
der sich widerstandslos als PR-Prophet einspannen lässt, nennt Souljacker eine Enzyklopädie
über Liebe, Gott, den Teufel, Schmerz und Herzschmerz, kurz: eine Magna Charta des Rock.
Heather Nova ist da schon eher eine Sirene des Songwritertums, die bei aller emanzipierten Innerlichkeit die
gröberen Gesten und Effekte eines kokett gehandhabten Sex-Appeals keineswegs verschmäht. Auf dem Cover
ihres neuen Albums South (bei Zomba) kommt sie sehr catchy daher. Dass Selbst- und Fremd-Wahrnehmung
meist nicht sehr viel miteinander zu tun haben, zeigt ein genauerer Blick auf ihre Songs: Virus of the
mind etwa soll, so Heathers Statement, das lebenslange Gefühl zum Ausdruck bringen, nicht dazuzu-
gehören, für immer ein Nomaden-Dasein führen zu müssen. Dabei ist sie jedermanns/jederfraus
Liebling und alles andere als ein verschrecktes cowgirl; nämlich: zu Kooperationen fähig und bereit.
Davon profitieren die drei jungen Schweden der Geheimtipp-Band Eskobar (bei V 2), deren melodiöser
Pop auf ganz eigene Weise Sound und Swing der Sixties wiederverkörpert. Someone New nennen
sie das dann und verpflichten Heather Nova als Duettpartnerin: auch ein wunderbares Album. Unter dem Diktat
der wiedergefundenen Zeit entsteht aus dem ganz Alten, das jederzeit wiedererkennbar bleibt, das ganz und gar
Neue. Bezaubernde Momente!