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nmz-archiv
nmz 2002/02 | Seite 33-34
51. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Feldman und die Viola
Neue Bratschen-Stücke in Kölns Musik der Zeit
Wie neu ist Neue Musik? Wie definiert sich überhaupt das Neue? Ist Donaueschingen out?
Wer aber wäre dann in? Vielleicht der Westdeutsche Rundfunk, Abteilung Neue Musik? Seit fünfzig
Jahren existiert dort die Veranstaltungsreihe Musik der Zeit. Und ebenso lang das Elektronische
Studio. Im Augenblick arbeitet man an einer großen Dokumentation. Schon das Betrachten der Korrekturfahnen
wirkt fast verwirrend: Was alles ist in Köln in fünf Jahrzehnten zum ersten Mal erklungen: Über
fünfhundert Uraufführungen enthält die Statistik, davon über die Hälfte Auftragswerke
des WDR für die Musik-der-Zeit-Reihe und die Wittener Tage für Neue Kammermusik, für die der
Westdeutsche Rundfunk ebenfalls die Programme konzipiert. Über die Dokumentation und das, was sie enthält,
wird nach Erscheinen zu berichten sein.
Inzwischen aber werden die musikalischen Erkundungen mit unverändertem Elan fortgesetzt. Harry Vogt, Leiter
der Neue-Musik-Abteilung und Nachfolger Wolfgang Becker-Carstens, fällt zur Musik der Zeit
immer wieder thematisch Interessantes ein, zum Beispiel: Die Bratsche, das einst zur Mittel- und Füllstimme
degradierte Streichinstrument, das in der Neuen Musik eine verblüffende Renaissance erfuhr.
Der Komponist als Bratscher: Johannes Fritsch interpretiert seine Komposition
Violectra für Viola damore und Synthesizer. Foto: Charlotte Oswald
Fünf Konzerte an zwei Tagen mit zehn Uraufführungen und zwei deutschen Erstaufführungen sowie
gewichtigen Wiederbegegnungen: fast ein kleines, komprimiertes Donaueschingen. Kompetente Interpreten für
die Neue Musik das WDR-Sinfonieorchester unter Heinz Holliger, das unermüdliche ensemble recherche,
dazu ein Sextett hochrangiger Solo-Bratscher, deren Zuständigkeit für die Moderne außer Frage
steht: Tabea Zimmermann, Geneviève Strosser, Barbara Maurer vom ensemble recherche, Elisabeth
Kufferath, Garth Knox und Christoph Desjardins vom Ensemble Intercontemporain in Paris.
Der Titel für das Programm stammte von Morton Feldman: The Viola in My Life. Der Avantgardist
als Romantiker, der 1970 eine junge, hübsche Viola-Spielerin kennenlernt. Feldman komponiert ihr vier Stücke
für ihr Instrument, zwei mit kleinem Ensemble, eines als Duo mit Klavier und das letzte und längste
für Viola und Orchester. Es war das erste Mal, dass der Zyklus jetzt in Köln komplett erklang. Fast
anrührend zu hören, wie Feldmans emotionale Bewegtheit für die Bratscherin Karen Philips sich
in seinem Komponieren niederschlägt. Da vernimmt man plastisch ausgeformte Kantilenen, fast traditionelle
melodische Formulierungen und expressive Crescendi des Solo-Instruments. Eine seltsame Idyllik breitet sich
aus, in der Orchesterversion denkt man unfreiwillig an ein etwas neuartiger formuliertes Siegfried-Idyll,
zumal Holliger, das Orchester und die Solistin Elisabeth Kufferath in klanglichen Finessen und fast zu edlem
Ton schwelgten. Aber es ist, auch in den Kammerbesetzungen und im Duo, hinreißend komponierte Musik, subtil
ausgehört im Klanglichen, beredt und plastisch in der komponierten Gestik, mit feinster Expression und
fast traumhafter Gespanntheit. Geneviève Strosser und Barbara Maurer exzellierten in den Fassungen für
Kammerensemble, Tabea Zimmermann interpretierte das Duo (zusammen mit der Pianistin Silke Avenhaus) mit feiner
Ausgewogenheit zwischen gelöstem Ausdruck und intensiver Innenspannung: Sechs Minuten große Musik.
Die Viola, das Instrument der Schwermut, der Trauer, des Elegischen, der träumerischen Liebessehnsucht
alles richtig, aber unvollständig. Georg Benjamin steigert das Instrument in Viola, Viola
für zwei Violen in ein virtuoses Geflecht aus Tempo, Dynamik, motivischen Partikeln und verschlungenen
Lienaments, dass es einen den Atem anhalten lässt. Wie herrlich klingen die drei Violen in Madernas Ockeghem-Transkription
Malor me bat, wie subtil übersetzt Georg Kröll die Dreistimmigkeit der Deux
Chansons des burgundischen Komponisten Gilles Binchois (1400 bis 1460) in die Vokalität
von drei Violen; wie radikal überträgt Heinz Holliger in seiner Machaut-Transkription Trema
die Vorlage in psychische und physische Erregungszustände, die dem Solisten ein Höchstmaß an
expressiver Virtuosität abfordern. Wohlklang verlangt auch Peter Eötvös nicht von der Viola.
Das in Erinnerung an B.A. Zimmermann komponierte Werk désaccord pour deux altos arbeitet
mit Verstimmungen der beiden Violen, mit geräuschhaften und ruppigen Klängen, mit sprachähnlicher
Gestik, mit Tremolo-Effekten und, im zweiten Satz, mit Assoziationen an Frescobaldi.
Zu einem Viola-Festival gehört auch die Viola damore mit ihrem Resonanzenreichtum. Garth Knox zauberte
in Georg Friedrich Haas Solo ein dichtes Geflecht aus Spielgesten und mikrotonalen Klangflächen
aus seinem Instrument hervor, präzis strukturiert und ausgehört. Johannes Fritsch, der Unermüdliche,
stellte noch einmal sein Stück Violectra für Viola damore und Synthesizer(1971/2002)
vor.
Erstaunlich, wie man im Live-Vortrag inzwischen die verschiedenen Klanghervorbringungen als ästhetische
Einheit wahrnimmt. Der Komponist fungierte als Viola damore-Spieler und eigener Interpret: Fritsch ist
ein fabelhafter Virtuose. Ebenso wie Walter Fähndrich, der mit Viola VII und Viola VIII
zwei Fortschreibungen seiner Viola-Serie präsentierte: Stücke ohne Notierungen, die vorerst nur der
Komponist selbst vortragen kann, weil nur er die Verläufe im Kopf hat. Das besitzt bemerkenswerte Stringenz,
sicher auch Spuren des Manischen und eine intensive Innenspannung zwischen Instrument und Kopf des
Schöpfers.
Unschwer war zu erkennen, dass die Bratsche der Neuen Musik weiterhin Impulse verleiht, ihr kompositorische
Erfindungen beschert, ihren spezifischen Klang den Klangerfindungen der Komponisten zuspielt. Jörg Widmann
kombiniert in seinem neuesten Werk Polyphone Schatten, Lichtstudie II Viola und Klarinette mit einem
Orchester, das durchgehend nur in kleinen, wechselnden Ensembles agiert. Wie Schatten huschen die
oft entmaterialisierten, tonlosen Klänge vorüber, diese wirken auf das Ohr wie die Pointillismen
der impressionistischen Malerei auf das Auge, wenn man sehr dicht an das Bild herantritt. In der horizontalen
Bewegung der Komposition geben die Soloinstrumente ständige Impulse vor, die vom Orchester aufgenommen
werden. Aus dieser Bewegung entsteht ein bemerkenswert großes Spannungspotential. Als Lamento di
Viola, als eine große Gesangsszene will Heinz Holliger seinen Recicanto für Viola
und kleines Orchester verstanden wissen, zugleich als einen Versuch über die Sprachhaftigkeit
der Musik. Das Ergebnis: fast eine halbe Stunde dicht komponierte Sprach-Musik, bei der es nicht an dunklen
Tönungen fehlt, für die die Viola zuständig ist.
Im selben Konzert auch Kurtágs Hommage á R. Sch., op. 15d für Klarinette, Viola
und Klavier und B.A. Zimmermanns Sonate für Viola (aus dem Jahre 1955) mit dem an Bergs Violinkonzert gemahnenden
Titel ...an den Gesang eines Engels, den der Komponist auf den frühen Tod seiner kleinen Tochter
schrieb. Tabea Zimmermann erhob das Werk zum großen, bewegenden Klagelaut ohne jeden Anflug von Larmoyanz.
Das Finale gehörte allein dem fabulösen ensemble recherche und seiner großartigen
Viola-Spielerin Barbara Maurer. Zu schon bekannten Stücken von Ferneyhough (Incipits aus dem
Jahr 1996 für Viola solo, obligates Schlagzeug und sechs Instrumente) und Kurtág (u.a. Hommage à
Tristan; Jelek IV) gesellten sich drei Uraufführungen. Eine wieder von Georg Kröll: Wie das
Gebirg, das hochaufwogend mit einer durchgehenden Bratschen-Melodie-Linie, die auf- und niederwogt und
-stürzt wie die Kammlinie eines Gebirges oder Meereswellen, während Violine und Cello eher statisch
agieren, was eine spannungsvolle Konfrontation ergibt. Kurtág stellte seine Komposition In Nomine
allongherese in einer Version für Viola vor und James Tenney präsentierte als Uraufführung
ein viertelstündiges Spectrum 8 für Ensemble, in dem es prozesshaft, dicht und recht dynamisch
zugeht, wobei die Ausdruckswerte und Klangprofile eher flächig erscheinen.
Die Viola, das unbekannte Wesen? Nach den fünf Konzerten ist uns das Instrument noch markanter ins Bewußtsein
und auch ins musikalische Herz getreten. Kölns Musik der Zeit ist immer auch eine Musik der
Zukunft, zu der nicht nur das einzelne Werk gehört, sondern auch seine Präsentation in dramaturgischen
Zusammenhängen.