Anachronistisch sei der Glaube an strukturelles Denken. Dafür setzt man Monate seines Lebens ein,
und das hört keiner und interessiert keinen. Man verliert sein Leben darüber. Es ist das Perverse
unseres Musikbetriebs. Er ist auf Uraufführungen fixiert, dafür produzieren wir. Es geht dem Betrieb
um die Uraufführung, um diesen Event, nicht um die Musik. Das heißt für uns, dass wir uns ständig
immer etwas Neues aus dem Hirn saugen müssen." Wir zitieren Olga Neuwirth, aus einem Gespräch,
abgedruckt im Programmheft der letzten Schwazer Klangspuren. Das Bild ängstigt: Komponisten als Rädchen
in einer brav funktionierenden Gesellschaft mit dem Primat der Wirtschaft über alle (Kultur-)Politik und
Lebensbereiche. Und der Fetisch Wachstum waltet längst auch hier: Gefordert ist die Massenfertigung des
glanzvoll Immerneuen mit der Kehrseite besinnungslosen Konsums. Bis zum finalen Hörkollaps. Festivals zeitgenössischer
Musik als heimliche Paraden des Geldgeists? Uraufführungen als Events, deren zugrundeliegende Hirn- und
Herzleistung niemand mehr interessiert?
Nicht solange Künstler wie Olga Neuwirth mit ihren Zweifeln immer wieder die Herausforderung dieses gesellschaftlichen
Wahnsinns annehmen; und ohne dabei in die unheimliche Routine letzter Großkomponisten" wie
Wolfgang Rihm oder Magnus Lindberg zu verfallen: Rihm vertonte jüngst vier Rilke-Gedichte (UA 2.2., Stuttgart),
Lindberg liefert sein neuestes großorchestrales Opus Parada" (6.2., Basingstoke). Eine weitere
Parade Musiktheater auf dem Laufsteg" als musikszenisches Projekt (mit Beiträgen von
neun Komponisten) soll hier stellvertretend für die vielen Novitäten im Rahmen des Stuttgarter Festivals
Éclat" (30.1.-4.2.) stehen. Allerdings ist hier auch Querständiges zu erwarten, etwa
wenn Eliav Brand sein Porträt des jungen Künstlers als Zielscheibe" für Mezzosopran,
Alt und Ensemble mitbringt. Glaubt man den Titeln, so handelt es sich auch bei den neuen Kompositionen von Olga
Neuwirth, Erik Mikael Karlsson und Johannes Fritsch eher um solche aus dem beschädigten Leben"
(Adorno): Neuwirths Torsion" für Fagott und Ensemble erklingt erstmals im Rahmen des Festival
Présences Paris (weitere Uraufführungen bis 16.2.); Erik Mikael Karlsson liefert ein Still
Life with Wound" für Sopran und alte Instrumente (19.2., Stockholm) und Johannes Fritsch komponierte
auch eine Parade, allerdings eine für Knochen: Osteophonie für vier Schlagzeuger am 2. Februar in
Köln.
30.01.-04.02.2002: Festival Éclat. Uraufführungen von Sidney Corbett, Andreas Dohmen,
Alan Hilario, York Höller, Mauricio Kagel, Claus-Steffen Mahnkopf, Héctor Moro, Wolfgang Motz,
Mark Osborn, Stefano Scodanibbio, Oscar Strasnoy, Michael Svoboda, Jerry Willingham, Stuttgart
30.01.-16.02.2002: Festival Présences. Uraufführungen von Qigang Chen, Guy Reibel, Frédéric
Durieux, Aurel Stroe, Alejandro Vinao, Michel Redolfi, Thierry de Mey, Marc Ducret u.v.a., Paris
07.02.2002: Laurent Petitgirard: Joseph Merrick dit Elephant Man. Oper in vier Akten, Prag
08.02.2002: Vadim Karassikov: The Vectors of the Echo Slipping Away für Ensemble, Frankfurt
08.02.2002: Alexander Raskatov: Neues Werk für Chor und Ensemble, Amsterdam
08.02.2002: Olga Neuwirth: Locus...doublure...solus für Klavier und Orchester (UA der Orchesterfassung),
Antwerpen
09.02.2002: Kevin Volans: Concerto for Orchestra, BBC London
12.02.2002: Franck C. Yeznikian: Un crible en estreintes für drei Blockflöten, Stuttgart
15.02.2002: Robert Coburn: PatternsLuminous für Computer, Shakuhachi; Neues Werk für Computer,
Tenor, Klavier; Francois Rossé: Demain oublié für Sextett; Lüneburg
17.02.2002: Marco Stroppa: Miniature estrose Zyklus für Klavier, WDR Köln
20.02.2002: Toshio Hosokawa: Neues Werk für Orchester, Tokyo
20.02.2002: Harald Muenz: The Self Composer for sight-reading oboist and laptop, Berlin (Kulturbrauerei)
21.02.2002: Steve Martland: Percussion Concerto, BBC London
22.02.2002: Steven Mackey: Pedal Tones für Orgel und Orchester, San Francisco
23.02.2002: Gavin Bryars: G" Oper, Staatstheater Mainz
27.02.2002: David Coleman: Neues Werk für Stimmen; Caspar Johannes Walter: Doppelgesicht für
5 Stimmen und Trompete, Leipzig
27.02.2002: Harrison Birtwistle: Saraband: The Kings Farewell für Klavier, London
28.02.2002: Pascal Dusapin: Etudes 1-7 für Klavier (UA der vollständigen Fassung), Stuttgart
28.02.2002: Gil Shohat: Deutsche Symphonie nach Texten von Else Lasker-Schüler, Bochum