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nmz-archiv
nmz 2002/02 | Seite 49
51. Jahrgang | Februar
Dossier: Aufstand
der Komponisten
Wege Auswege Umwege
Zu Situation, Strukturen und Inhalten der zeitgenössischen Musik
Anmerkung: Dieser Text versteht sich als weiterführende und ergänzende Diskussionsgrundlage und
Anregung zu dem von uns kürzlich veröffentlichten Protestschreiben Donaueschingen in der Kritik
(siehe dazu auch: www.donauwelle.org). Die breite Resonanz,
die wir als Folge dieses Schreibens feststellen konnten und können, lässt uns hoffen, dass eine konstruktive
Debatte entsteht, die Folgen hat, die der Sache dienlich sind.
Die Zeit, von der man sich einigte, sie als Postmoderne zu bezeichnen, hat neue Qualitäten erreicht. Während
in der langen Zeit des Fortschreitens die Moderne ihre ungeheuerlichen Umwälzungen vollzog, wurden die
Hauptakteure der Neuerungen von ihren die Fortschrittlichkeit anzweifelnden Kindern dazu verdammt, zu Verwaltern
von Gefängnissen zu werden, so lange, bis sie, teils unglaubwürdig, teils ernüchtert, das Handtuch
warfen oder sich mehr oder weniger den neuen Gegebenheiten anpassten. Die Kinder der Neuerer schlugen die Schlacht
mit ihrer Vätergeneration und die Enkel spielen nun im globalen Netz mit Meinungen, Ansichten und Positionen
der in postmodernen Kontexten gänzlich relativierten Ideen. Planlos, ziellos, ästhetizistisch, ohne
neue Impulse, so nörgeln die Kritiker; individuell, kontextuell, meinen die Hoffnungsvollen
und Interessierten. Doch ist die Lage für jene, die Erscheinungen im musikalischen Kontext präsentieren
die Komponisten tatsächlich ernüchternd, tatsächlich ohne Aussicht und Perspektive?
Nein, in vielerlei Hinsicht nicht, doch Perspektiven, von denen zu reden ist, Hoffnungen, die sich bieten,
haben nahezu nichts mehr mit den Erscheinungen und Strukturen zu tun, in denen Neue Musik sich lange darstellte
(nüchtern und ohne die bekannten Vorbehalte betrachtet). Längst ist es nicht mehr das Feuilletonerprobte
und müde anything goes der Jünger der Postmoderne oder das Es gibt keine Wege, aber
wir gehen der bekehrten Avantgardisten, was als der alleinige Weg in Betracht kommt, es sind nicht mehr
die Festivals und Wettbewerbe, die in ihrer verdienstvollen Elitenkultur so Bedeutendes erkannten und förderten,
und es sind auch nicht oder mit wenigen Ausnahmen die gediegenen Ensembles Neuer Musik und die
bedeutenden Verlage, die ein Fortschreiten garantieren ohne dass hier überhaupt die Frage, was Fortschritt
in musikalischen Kontexten ist, berührt werden soll.
Um neue Wege gehen zu können, Tendenzen zu entdecken, müssen Fragen nach Strukturen und Umgebungsbedingungen
und ihren Bedeutungen gestellt werden.
Was ist neu? Vielleicht Peter Ablingers Kunstkopf mit Kopfhörer,
eine Installation für Witten mit dem Titel Weiss/Weisslich (2000). Foto: Charlotte Oswald
Lange stand ein Aspekt vor allen anderen im Vordergrund: das Material als ästhetisches Produkt und Leihgabe
scheinbarer Inhalte. Dabei wurde völlig übersehen oder ängstlich umgangen, dass neben der einen
Verpackung auch noch andere existierten, denen sich nicht nur die musikalische Konkurrenz sondern auch die anderen
Genres, denen das Selbstverständnis und Erscheinungsbild als Sparte nie so hemmend war wie der ernsten-zeitgenössischen
Musik, längst zugewandt hatten. Der Prozess der Sichtung von Material auch und besonders in seinen
ästhetischen Spiegelungen emanzipierte es zwar in materialästhetischer Hinsicht, hatte aber
letztendlich nur zur Folge, dass aus der scheinbar gewonnenen Autonomie nur ein neues Verdikt erwuchs, das deswegen
so schwer zu durchbrechen ist, weil es dem Anschein nach die Freiheit an sich impliziert, inklusive historischer,
soziologischer und ästhetischer Kontexte. (Übrigens ist das Verdikt nicht nur aus seinem
scheinbar so grundlegenden demokratischen Selbstverständnis heraus so schwer zu kritisieren, sondern auch
deshalb, weil die Gegenseite, die im Verständnis der jetzigen Generation möglicherweise
gar nicht mehr an neuen Polaritäten interessiert ist, sich stets des Vorwurfs der Marginalisierung komplexer
Vorgänge zu erwehren hat.) Das Diktat blendete Fragen nach Inhalten völlig aus, genau
wie die Frage nach ihrer Darstellung. Wobei hier jedoch nicht das klassische Verständnis von
Thematik gemeint ist (vor der und deren Tendenz zur Simplifizierung zu Recht zu warnen ist, da sie weder Spiegel
der Umgebung noch Perspektive ist). Themen wie Politik, Rasse, Klasse, Sexualität, Sozialität
die in Bereichen der bildenden Kunst, des Theaters und der Literatur längst in neuen Formen von brachial
bis hin zu verwirrender Doppeldeutigkeit Einzug gefunden haben überlässt die zeitgenössische
Ernste Musik dem großen Feind, der populären Musik oder den anderen Genres, ohne sich
auch nur im entferntesten darüber bewusst zu sein, dass der Feind und die Konkurrenz längst
Freund jener sind, derer die Neue Musik so sehr bedarf: Dem kritische Potenzial an Zuhörern und Rezipienten,
das anderswo seinen Platz gefunden hat. Ob nun zum Beispiel in Clubs oder in Festivals und Konzerten, die die
Grenzüberschreitung nicht propagieren, weil sie sie implizieren, und zwar nicht nur, was das reine Werk,
sondern auch was eben jene Umgebungsbedingungen betrifft. Das Publikum das junge Publikum insbesondere
ist nicht nur gebildeter, als dass es von so manchem Lehrmeister der Neuen Musik mit wohlfeilen Worten
belehrt werden müsste (besonders, wenn es hinter dem sicher ehrlichen Ringen die Inhalte sucht), es ist
vor allem ästhetisch in höchsten Maße geschult.
Der verzweifelte Versuch, ein wenig Mainstream zu machen, Strukturen aufzuweichen, indem man Grenzüberschreitendes
dezent einbezieht (oft bemüht, sich ästhetisch und inhaltlich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen),
entbehrt oft nicht einer gewissen Peinlichkeit und Hilflosigkeit, weil in Werken und Orten längst anderswo
etabliert. In Formen und Strukturen, wo man nicht mehr von Einbeziehung anderer Medien oder der
Gegenüberstellung selbiger spricht, sondern tatsächlich einem Componere mit all
seinen Schwächen, Populismen und Spielereien. In manchen Zusammenhängen kann man nicht mehr auch nur
annähernd von einem determinierten Bild des/der Komponisten/-in ausgehen, da es sich längst zu einem
komplexen Künstlertypus gewandelt hat auf diesen zu reagieren, ist eine neue große Herausforderung,
denn er zeigt sich nicht nur skeptisch gegen über geschlossenen und anerkannten Systemen, sondern
auch äußerst zielstrebig in der Umsetzung seiner Ideen, mit wachsender Tendenz zur losen Vernetzung.
Doch die Systeme haben auch auf Herausforderungen ganz anderer Art zu reagieren: Denn die Gleichzeitigkeit
von historischen Strukturen und Sinnbildern mündet bekanntermaßen nicht selten in komplexe Systeme
musikalischer Art, die von wissenschaftlichen Ansprüchen bis hin zu stilistischer Vielschichtigkeit ihr
theoretisches Feld ausbreiten. (In diesen Komplex fällt übrigens genauso die Tendenz zur Simplifizierung
der kompositorischen Mittel, was zum einen zur bewussten Banalisierung und zum anderen zu einer Neubewertung
von musikalischen Grundwerten und inhaltlichen Fragen inklusive ihrer Darstellung reicht beides Fälle
mit häufiger Tendenz zur Mehrdeutigkeit.)
Jedes dieser Systeme schuf sich (nicht selten in Verbindung mit akademischen und institutionellen Strukturen)
seine eigenen Enklaven, die von Bedeutung und Wichtigkeit im Kontext waren so sie sich denn im Austausch
mit anderen Systemen befanden. (Denn zu sagen, man hätte hierbei das System des Komponierens
gefunden, ist schlichtweg Unfug, denn keine, noch so komplexe Einheitstheorie, kann auch nur annähernd
ein künstlerisch-theoretisches Lebens- oder Weltbild sein.)
Die Halbwertzeit dieser Ordnungen war und ist häufig aber länger als ihre eigentliche
Resonanz, was nicht nur mit den Systemen an sich, sondern vor allem mit der Trägheit des jeweilig dahinter
verborgenen Ordnungssystems zu tun hat. Es ruft zu Recht jene auf den Plan, die Konsequenzen längst gezogen
haben und um die Darstellung von Perspektiven und divergierenden Ordnungen bemüht sind; mit
dem wesentlichen Unterschied, dass Ordnung sich hier nicht mit einem Bekehrungs- und Belehrungsmythos
verbindet, der wenn er als allgemein gültiges Prinzip nicht sich befruchten lässt oder andere
befruchtet seine opportunen oder egomanen Züge kaum verbirgt, sondern eher eine Selbstverständlichkeit
im Umgang mit Wechselwirkungen pflegt, ja, geradezu benötigt und nicht im Mindesten der Gefahr erliegt,
dass grundlegende Prinzipien berührt werden.
Die traditionelle Elite, die schon die Diskussion darüber, ob über die Systeme zu debattieren sei,
oft als einen Angriff auf die Kultur schlechthin sieht und somit das Problem hin zu einer Debatte verschiebt,
die erst im zweiten und dritten Schritt wieder von Bedeutung wäre, muss sich will sie nicht völlig
überrollt werden von tatsächlich unkoordinierbaren freien Strukturen und kommerziellen Dienstleistungsmechanismen
dem längst gesellschaftlich relevanten Diskurs über die Konsequenzen der Auflösung fixierter
Modelle stellen.
Wo die, die das Wort Vernetzung allzu häufig im Mund führen, meinen, dass mit Klanginstallation,
Video und gelegentlich ein wenig DJ-ing im kahlen Musentempel das Problem gelöst sei, sich weiter auf den
Sonnenbänken der Selbstgefälligkeit und des Beamtentums oder des resignierten Händehebens räkeln,
muss man tatsächlich um die Zukunft einer freien, vielleicht einer neuen, mit Sicherheit aber einer sprachbegabten
Musik mit Tendenz zum Diskursiven, mit Lust am Widerstreit und an Widerständigkeit fürchten. Innovation
entsteht nicht in den abgelebten Zentren der Hochkultur und in Zukunft auch nicht aus ihnen heraus, wenn ein
zutiefst hemmender Antagonismus als Resultat von unreflektierter Wechselwirkung zwischen Systemen (die mit Musik-
und Hochschule, Verlagen, Festivals, Ensembles, Fördermaßnahmen, Außendarstellung et cetera
benannt werden müssen) bestehen bleibt.
Die Kritik also, dass keine Zeitrelevanz mehr in neuen Kompositionen vorhanden ist, ist also keineswegs den
Komponisten alleine anzulasten, versuchen doch eben jene ihren Hang und Drang nach Aussagen dem anzunähern,
was ihnen die Chance zur Darstellung bietet. Wird sie ihnen nicht geboten oder ist die Widerständigkeit
so groß, dass der in erstarrten Strukturen und Konzepten nötige Opportunismus nicht greift, dann
bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: Eigeninitiative oder Verstummen.
Wenn das Problem, dass in Festivals Neuer Musik vornehmlich Herren, die mit ihren Verdiensten oft alt geworden
sind, über Programminhalte entscheiden (Frauen sucht man ja nicht nur in den Programmen meist vergebens),
in einer Zeit, in der selbst ein Mittzwanziger Schwierigkeiten hat zu folgen und sich die wenigsten der Jungen
anmaßen würden, alle Bereiche der zeitgenössischen Musik beurteilen zu können; wenn das
Konglomerat aus alten und neuen Konzepten, dem der war jetzt auch mal wieder an der Reihe und dem
hilflosen Protegieren von Epigonen einstiger Größen und wenn das Fördern von Kompositionssystemen,
die das Sich-Rückversichern und Konformität zum obersten Prinzip erheben, weiter Bestand hat, dann
brauchen sich die Verantwortlichen über massive Kritik als Folge inhaltlicher Trostlosigkeit nicht zu wundern.
Genauso wenig darüber, dass junge Künstler in der Eigeninitiative mehr Chancen sehen, mit der Folge,
einer oft massiven Abgrenzung von allen Mechanismen und Strukturen, in denen zeitgenössische Musik mehr
oder weniger funktioniert hat. Nur die Ahnungslosen, Blinden und Gutgläubig-Naiven bestürzt es, dass
die, die Initiativ- und Innovationspotenzial haben und daraus mit viel Mühe Aktivitäten ableiten,
sich nicht mehr aufgerufen fühlen, Gemeinsamkeiten mit vormals etablierten Institutionen und Strukturen
zu suchen und gegen Wände zu rennen. Sich über Muzak, akustische Umweltverschmutzung, dekorativen
Klangmüll, fehlende Konzepte und mangelnden Zuspruch eines unabhängigen Publikums zu beschweren, ist
eine Seite der Medaille, die andere, Lösungen anzubieten beziehungsweise für Lösungen den Boden
zu bereiten. Dass kritische Köpfe und wache Geister initiativ werden, setzt übrigens auch ein wenig
Geduld voraus.
Niemandem hilft es heute noch weiter, wenn Analysen im wir müssten:..., es ist an der
Zeit, dass ... verbal kulminieren und gelegentlich höchstens eine feuilletonistische Plänkelei
auslösen. Es ist und bleibt ein sich immer stärker drehender Strudel der Tatenlosigkeit und Frustration,
das Problem permanent zu delegieren: die Künstler an die böse kulturlose Umwelt, die Hochschulen an
den Markt, die Komponisten an die Verlage, die Festivals an die Kulturpolitiker et cetera, et cetera. Patentrezepte
gibt es gewiss nicht; mit Sicherheit aber löst sich das Problem nur, wenn dem System und seinen Komponenten
eine Radikalkur verordnet wird. Das große Köpferollen steht allerdings nicht bevor, genauso
wenig wie eine Stunde Null möglicherweise aber klare Worte, schmerzhafte Entscheidungen
und Prozesse. Unkontrollierbare Wut, Exaltiertheit und Schonungslosigkeit, die in vielerlei Hinsicht auch heute
noch wohltuend ist, droht mit Sicherheit nur dann, wenn Konzepte und Ideen weiterhin allein im systemkonformen
oder systemnahen Gewand eine Chance haben.
In mancherlei Hinsicht ist Diskussion wichtig, in anderer Hinsicht mehr als überflüssig. Nicht übersehen
werden sollte in diesen Zusammenhängen ferner die Tatsache, dass, wo Künstler das Wort ergreifen,
ihnen die Öffentlichkeit auch heute noch manche Unverblümtheit zubilligt, ja, geradezu erhofft. Wo
Werke eine Sprache haben, die sich nicht nur rein intellektuell erschließt und vermittelt, sondern Fragen
an sich und seine Rezipienten stellt und das Wagnis von Lösungen und Konzeptionen eingeht, da werden diese
Werke auch ihre Öffentlichkeit bekommen. Denjenigen, die sich genau genommen in der Mitte befinden (und
diese Mitte ist zumeist gleichzusetzen mit den oben beschriebenen Systemen und ihren Strukturen), nimmt die
Öffentlichkeit die Beteuerungen des Wir stehen kritisch am Rand schwerlich ab, zumal, wenn
es nur als Klagelied oder ästhetizistische Diskussion und nicht als Spannung zwischen verschiedenen Komponenten
öffentlich wird. Diejenigen aber, die gesellschaftliche, ästhetische, soziologische und politische
Polaritäten künstlerisch umsetzen, die gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts mit seinen so vielschichtigen
Wandlungen als zentrale Fragen ganz neu von Belang sind, finden auch einen Boden für ihre Ideen. Die Frage,
ob das dann neu oder anders ist, stellt sich im Nachhinein. Vorher sollten manche zarte
Ansätze nicht in den Schubladen alter Begrifflichkeiten und auf den Märkten fragwürdiger Rezeption
zu Grabe getragen oder in Strukturen begradigt werden. Strukturen, denen das kurzfristige Überleben wichtiger
ist als längerfristige Perspektiven, die etwas mit der heutigen Zeit und ihren Herausforderungen zu tun
haben wollen.