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nmz-archiv
nmz 2002/02 | Seite 1
51. Jahrgang | Februar
Leitartikel
Wie der Turm: Schieflage der PISA-Studie
Test mit Schwächen alle Schüler in einen Sprachtopf? · Von Klaus-Ernst Behne
Das hätte man den armen Deutschen nicht antun dürfen: ihnen wissenschaftlich untermauert und auf
internationalem Parkett zu bescheinigen, dass es mit ihrem Nachwuchs intellektuell nicht so weit her sei. Gelten
sie nicht weltweit als Volk der D & D (Dichter und Denker), und nun sollen sie d & d (dösig &
deppert) sein? Zumindest der Spiegel (Sind deutsche Schüler doof?) ließ Derartiges
befürchten.
Jede(r) fühlte sich berufen, den nationalen Bildungsnotstand auszurufen, zu versichern, dass das Ergebnis
nicht überrascht habe und dass man sich eigentlich in seinen bisherigen kulturpolitischen Forderungen bestätigt
fühle. Noch nie wurden innerhalb kürzester Zeit so viele Vorschläge in die Diskussion geworfen:
Durchaus Diskutables (Ganztagsschule, Gesamtschule, gezielte Sprachförderung im Vorschulbereich, natürlich
eine radikale Reform der Lehrerbildung), Rundumschläge (Abschaffung der Kultusministerkonferenz) oder Possierliches
(Verlegung des Unterrichtsbeginns von 8.00 auf 9.00 Uhr, so ein Münchener Stadtrat).
Das Problem dieser neuen Bildungsdebatte, von der noch nicht abzusehen ist, ob und was sie Positives
bewirken wird: PISA hat recht, die Ergebnisse der 15-jährigen Deutschen sind (relativ) schlecht, in kaum
einem anderen Land ist die Schule so wenig geeignet, das Schicksal ungleich anregender, ungleich fördernder
Elternhäuser auszugleichen. Aber ebenso gravierend ist das Problem, dass die allermeisten Kommentatoren
sich bei der Suche nach den Ursachen (vor allem für das deutsche Ergebnis!) in einem ziemlich unübersichtlichen
Gestrüpp von vielfältigen Bedingungsfaktoren (und politisch eingeflüsterten Patentrezepten) verheddern
und deshalb zu allen möglichen Konsequenzen, kaum zu den richtigen, gelangen. Dabei drängt sich eine
Erklärung für die bescheidene Leistung des deutschen Nachwuchses geradezu auf, die von den Autoren
des Berichtes allerdings wie eine heiße Kartoffel behandelt wird.
Die PISA-Studie, die zweifellos professionell konzipiert und durchgeführt wurde, ist mit einem methodischen
Problem behaftet, das in dem umfassenden Bericht nicht verschwiegen, aber doch verharmlost, von den Verantwortlichen
in Interviews heruntergespielt wird. Ein außerordentlich wichtiger Faktor für das Abschneiden im
PISA-Test ist nämlich die Tatsache, ob der Test in der Muttersprache der Jugendlichen durchgeführt
wird oder nicht. Dies gilt für die Lesefähigkeiten natürlich in ganz besonderem Maße, wirkt
sich aber auch bei mathematischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen aus. Wenn man die Gesamtergebnisse
verschiedener Länder vergleichen will, dann muss deshalb auch berücksichtigt werden, wie hoch der
Anteil der nicht in ihrer Muttersprache Befragten (kurz: Ausländeranteil) in den verschiedenen Länderstichproben
lag. Unter dieser Perspektive wird beispielsweise deutlich, dass der häufig gewählte Vergleich zwischen
Finnland (niedriger Ausländeranteil, überragendes Ergebnis) und Deutschland (hoher Ausländeranteil)
eigentlich nicht zulässig ist. Man müsste nämlich hochrechnen beziehungsweise separat ermitteln,
wie die Ergebnisse ausgefallen wären, wenn Schüler mit fremder Muttersprache (mit minoritätssprachlichem
Hintergrund) und dadurch bedingten Startnachteilen, unberücksichtigt blieben. Genau das haben die
Autoren an einer(!) Stelle getan und kamen zu folgendem Ergebnis: Die Unterschiede zwischen Schülerinnen
und Schülern mit majoritäts- und minoritätssprachlichem Hintergrund hinsichtlich der mittleren
Punktzahl im Bereich Lesekompetenz beeinflussen eindeutig das Gesamtergebnis der Länder in diesem Sektor.
Wenn es Deutschland zum Beispiel gelänge, die mittleren Punktzahlen der minoritätssprachlichen Schülerinnen
und Schüler auf das Niveau der majoritätssprachlichen anzuheben, würde die mittlere Punktzahl
dieses Landes im Bereich mathematische Grundbildung über dem OECD-Durchschnitt von 500 Punkten liegen und
nicht 10 Punkte darunter. (S.183)
Die Autoren haben es jedoch relativ versteckt formuliert und kaum etwas dazu beigetragen, dass dieser Aspekt
in der öffentlichen Diskussion nennenswert zum Tragen kam. Hat man die Fettnäpfchen gefürchtet,
in die man treten könnte, wenn man die Devise ausgegeben hätte: Schulstudie: Ausländerkinder
drücken deutsche Platzierung? Genau dies war die relativ späte Schlagzeile der Welt
im Januar 2002! Ist man nun ausländerfeindlich, gar reaktionär, wenn man dieser Erklärung zentrales
Gewicht beimisst?
Die große Bedeutung der sprachlichen Kompetenz (und die Ignorierung dieses methodischen Problems)
zeigt sich auch an den Ergebnissen von Luxemburg und Belgien. Die Luxemburger Jugendlichen mussten wählen,
ob sie sich dem Test auf deutsch oder französisch unterziehen wollen, eine luxemburgische Version wurde
(aus welchen Gründen auch immer) nicht eingerichtet. Der europäische Zwerg landete in allen drei untersuchten
Bereichen abgeschlagen auf dem drittletzten Platz der OECD-Hitliste! Die Verhältnisse in Belgien mit seiner
eigenwilligen flämisch-wallonischen Sprachenlandschaft waren so kompliziert, das ihnen im Anhang ein eigenes
Kapitel gewidmet wurde.
Die PISA-Studie erlaubt sinnvoll keine bilateralen Ländervergleiche, solange die unterschiedlich hohen
Ausländeranteile der einzelnen Nationen nicht angemessen berücksichtigt werden. Es hätte nichts
dagegen gesprochen, jeweils ein zweites Ranking nur mit den muttersprachlichen Jugendlichen zu veröffentlichen.
Stattdessen hat man sowohl im Bericht wie auch in der öffentlichen Diskussion einen großen
Bogen um jene Stelle gemacht, an der man besagtes Fettnäpfchen vermutete.
Die PISA-Studie erlaubt aber sehr wohl die Aussage, dass das bundesdeutsche Bildungssystem im Vergleich mit
anderen Ländern (z.B. Schweden) wenig geeignet ist, die ihr anvertraute Schülerschaft, und hier insbesondere
die Jugendlichen mit minoritätssprachlichem Hintergrund, angemessen zu fördern. Deshalb muss die wichtigste
Konsequenz aus den Ergebnissen dieser Studie dahin gehen, Migrantenkinder angemessen zu unterrichten. Das Benennen
der schwarzen Schafe ist deshalb ausländerfreundlich, weil sich nur in Kenntnis
dieses Sachverhalts die notwendigen schulpolitischen Maßnahmen werden durchsetzen lassen.
Sind die D & D nun d & d? Die Enkel der D & D, also die muttersprachlich in Deutschland
Aufgewachsenen, sind es sicher nicht (was nicht ausschließen soll, dass auch für sie Unterricht verbesserungsfähig
ist). Die Migranten sind ebenfalls nicht d & d sondern in dem Sinne benachteiligt, wie es auch deutsche
Schüler im Ausland wären. Als d&d könnte sich höchstens die Schul- und Bildungspolitik
erweisen, wenn sie aus der an sich erfreulichen Diskussion die falschen Schlüsse zieht.