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nmz-archiv
nmz 2002/04 | Seite 8
51. Jahrgang | April
www.beckmesser.de
Brasilien
In dieser Kolumne wird ausnahmsweise einmal nicht gebeckmessert, obwohl die Themen auf der Straße liegen
beziehungsweise aus der Fernsehröhre hängen. Also keine Häme über das Fladengesicht von
Präsident Dabbeljuh, dessen Aussagekraft seine Propagandaabteilung mit Inszenierungen im Halbprofil aufzupolieren
versucht (Dabbeljuh im Gegenwind des Ventilators, auf dem Laufband dynamisch vorwärts schreitend, Blick
über die linke Schulter leicht rückwärts zum Betrachter gewandt). Auch keine heuchlerische Bewunderung
für den Kandidaten, der in der denkwürdigen Talkshow bei Sabine Christiansen am 20. Januar 2002 ein
Meisterstück dekonstruktivistischer Sprachkunst ablieferte und sich damit als Möchtegern-Karl Valentin
empfahl (wörtlich: ... kommen sicherlich die Fragen gleichge äh, nicht gleichgeschlechtlich,
sondern ob ich auch äh, äh, Asylgründe schaffe außerhalb der politischen und der rassistischen
Verfolgung, also auch Gründe, äh, wenn aus, äh, wenn andere Gründe sozusagen also aus dem
Geschlecht oder Ähnlichem stattfinden also Frauen, äh, irgendwie wegen ihres Frauseins irgendwo verfolgt
werden.) Nein, diesmal soll ganz aggressionsfrei auf einen außergewöhnlichen Musikfilm hingewiesen
werden, der vor kurzem in die deutschen Kinos gekommen ist.
Moro no Brasil (Ich lebe in Brasilien) heißt der Dokumentarfilm, in dem
der Finne Mika Kaurismäki den Ursprüngen der brasilianischen Musik nachgeht. Eine ziemlich exotische
Angelegenheit: Ein Mann aus dem Land der Elche und Seen und der langen Winternächte taucht ein in die indianisch-afrikanisch-kolonialistische
Mischkultur unterhalb des Äquators und fördert Klänge und Bilder zu Tage, die dem europäischen
Zuschauer einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt und Vitalität der brasilianischen Musik zu geben
vermögen. Die 4.000 Kilometer lange Reise durch Brasilien beginnt in Pernambuco im Nordosten und führt
ihn über Recife und Salvador bis in die Samba-Metropole Rio de Janeiro.
Wir müssen die weiße Musik vergessen und unsere eigene wichtiger nehmen,
sagt ein Angehöriger des Indianerstamms der Fulni-Ô, der im einsamen Hinterland von Pernambuco um
sein kulturelles Überleben kämpft. Die Musik hilft dabei, denn sie erzählt unsere Geschichte.
Die Jungen führen die Tradition mit Keyboard und E-Gitarre weiter. Auch in den Slums der Großstädte
dient die Musik als Überlebensmittel. Die von engagierten Musikern in Recife gegründete Perkussions-
und Tanzgruppe Daruê Malungo ein Ausdruck aus der Bantu-Sprache, der Kameraden
im Kampf bedeutet holt schwarze Slumkinder von der Straße und übt mit ihnen nicht nur
atemberaubende Tanz- und Musiknummern ein, sondern auch sozialen Zusammenhalt, einen Sinn für das Schöne
und ethische Normen.
Die geballte Energie und Konzentration, die die Halbwüchsigen bei ihrer Vorstellung inmitten
der bizarren Ruinenlandschaft der Favela ausstrahlen, vermittelt dem europäischen Zuschauer den Eindruck
einer Kreativität und eines Lebenswillens, wie sie hier zu Lande unbekannt sind. Die Botschaft, die er
von dieser Szene mit nach Hause nimmt, lautet: Hier, in diesen Elendsvierteln, lebt die Hoffnung auf das kommende
Jahrhundert, hier entsteht Zukunft. Ein ähnliches Experiment macht der als Sambista und Autor von Karnevalhits
berühmt gewordene Ivo Mereilles aus Rio. Seine Wohnung im Armenviertel Mangueira, wo er aufgewachsen ist,
hat er behalten, denn er will den Straßenkindern und arbeitslosen Jugendlichen Vorbild sein. Mit der von
ihm gegründeten Gruppe Funk n Lata (Funk und Blech) inszeniert er musikalische
Shows im Freien, mit denen er das ganze Ghetto mobilisiert: Ein Aufstand der Lebensfreude gegen die triste Wirklichkeit.
Gewiss, reale Veränderungen werden damit nicht erreicht, aber die Wirkung auf die Psyche der Menschen ist
enorm und gibt ihnen Kraft, um diese Veränderungen anzugehen.
Die Samba von Rio ist auch, aber nicht nur die melancholisch-elegante Großstadt-Folklore, die man hier
zu Lande aus den Medien kennt und deren soziale Wurzeln in Kaurismäkis Film mit Sensibilität, Humor
und in teilweise berührenden Bildern veranschaulicht werden. Jüngere Musiker entwickeln eine brasilianische
Variante des Rap mit sozialkritischer Note: Leben in der Favela, Sterben in der Gosse, und wer sich nicht
durchbeißt, hat schon verloren.
Eine der wichtigsten Energiequellen für die heutige Música Popular Brasileira liegt noch immer
in der Tradition der einstigen afrikanischen Sklaven. Hier vermischt sich mitreißendes Musizieren mit
kultischen Elementen. Der Candomblé in Salvador, der Hochburg der schwarzen Kultur Brasiliens, beeinflusst
die Popularmusik auf hörbare Weise und verleiht ihr jene magische Intensität, die selbst in den Zweit-
und Drittformationen der bahianischen Kultgruppe Olodum, die jeden Sommer die europäischen
Open-Air-Festivals abklappern, noch durchscheint. Dazu kommt das ethnische Apriori Brasiliens, die Vermischung
der Rassen. Bahia ist der Ort, wo die Vermischung der Menschen keine Grenzen kennt, sagt die erfolgreiche
schwarze Sängerin Margaret Menezes, und das ist es, was mir hier so gefällt. Man schämt
sich nicht und sagt nicht: Das hat Einflüsse von dem und dem... Es liegt in der Seele des Volkes,
sich selbst und alle Dinge zu vermengen. Und das bereichert uns sehr.
Schnitt, Asylantendebatte. ... ob ich auch äh, äh, Asylgründe schaffe außerhalb
der politischen und der rassistischen Verfolgung, also auch Gründe, äh, wenn aus äh...
und so weiter. Die Armseligkeit dieser Filzhutlogik, das ganze verklemmte Beharren auf vorgestrigen Provinznormen
verblasst angesichts des Großmuts und der Lebensbejahung, die die Menschen und ihrer Musik in Kaurismäkis
Film ausstrahlen. Die unfrohe Kandidatenrabulistik kann man abhaken. Doch für den Film gilt: Sofort hingehen
und anschauen!