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nmz-archiv
nmz 2002/04 | Seite 32-33
51. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Nach innen gesungen
Wolfgang Rihms neues Bratschen-Konzert
Dreimal im Jahr treffen sich die Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie zu intensiven Probenphasen, wechselnd
an verschiedenen Orten. Im Frühjahr zieht es sie meist in das idyllische Ochsenhausen. Die Musikalische
Landesakademie Baden-Württemberg als Gastgeber residiert dort in der imposanten barocken Klosteranlage,
deren vielgestaltige Räumlichkeiten für Proben, Konzerte sowie Unterbringung ideale Bedingungen bieten.
Das jetzige Programm des Orchesters, von Hans Zender einstudiert und in einem Vorkonzert in Ochsenhausen dirigiert,
präsentiert sich dramaturgisch überlegt, anspruchsvoll und in der Ausführung bemerkenswert souverän:
Zwei Werke von Schubert, die Rosamunden-Ouvertüre und die Unvollendete, umschließen
die Uraufführung des 2. Bratschenkonzerts von Wolfgang Rihm und Hans Zenders bedeutende Bardo-Komposition.
Von Ochsenhausen ging die sich anschließende Tournee nach Budapest, danach nach München, Berlin,
Hamburg, Witten und Frankfurt am Main, wo sie am 14. April 2002 endet.
Im Mittelpunkt des Interesses stand natürlich möchte man sagen, weil es eine Uraufführung
war das neue, das 2. Bratschenkonzert von Wolfgang Rihm, im Untertitel mit Über die Linie
IV bezeichnet, von der Jungen Deutschen Philharmonie als Auftrag an Rihm vergeben und vom Komponisten
der Viola-Spielerin Tabea Zimmermann dediziert.
Intimissimo-Kammermusik in Ochsenhausen: Die Bratscherin Tabea Zimmermann,
Dirigent Hans Zender und die Junge Deutsche Philharmonie bei Proben zur Uraufführung von Wolfgang
Rihms zweitem Konzert für Viola und Orchester. Foto: Charlotte Oswald
Wolfgang Rihm, nicht nur als Komponist, auch als Essayist, kritischer Kommentator und fantasievoller Briefeschreiber
höchst talentiert, schrieb Tabea Zimmermann zur Überreichung der Komposition einige wunderschön
zu lesende, weil den Gegenstand präzis treffende Sätze, die hier, weil es anders kaum besser und anschaulicher
zu beschreiben ist, wörtlich zitiert seien. Rihm schreibt also in einem Brief an Tabea Zimmermann über
sein Werk: Da ist es nun. Wieder nichts Paganinieskes. Aber ich hoffe natürlich: etwas Gutes. Innerer
Monolog von Anfang bis zum Schluss. Vorgestern hörte ich im Radio: Dich die B.A. Zimmermann-Sonate spielen
und war sehr angerührt. Da will man bestehen können. Dieser Reife und Meisterschaft sei diese
Intimissimo-Kammermusik anvertraut... Alles ist eben Linie, geschabt wird nirgends, gesungen immer. Meine alte
Idee des gesanglichen Konzertes, der Instrumentalkantate, lässt mich nicht los. Das wird seine
Gründe haben... Was für Gründe aber? Innerer Monolog, gesangliches Konzert Rihm
formuliert selbst die Stichworte. Sprache verwandelt sich in Musik, die Musik sagt, was Worte allein nicht vermögen.
Die Musik spricht mit ihren ureigensten Ausdrucksmitteln, mit Tönen und Klängen, rhythmischen
Akzenten, weit gespannten melodiegesättigten Lineaments, wendet dabei den Ausdruck immer wieder nach innen,
ins gleichsam Unerhörte, Noch-nicht-Gesprochene, das nun versucht, im Pianissimo-Hauch sich auf das Zarteste
zu artikulieren. In diesen Augenblicken offenbart auch Tabea Zimmermann ihre überwältigende Meisterschaft:
Man könnte den Eindruck gewinnen, sie berühre die Saiten ihres Instruments gar nicht mit dem Bogen,
erzeuge nur einen leisen doch nachdrücklichen Lufthauch, der die Saiten in klingende Schwingungen versetzt
Dann aber bricht, quasi den Pianissimo-Gestus der Musik unterbrechend, die kraftvolle Rihm-Rede in das intime
Gespräch ein: eine Art Wechselrede zwischen Solo-Instrument und Orchester, rhythmisch heftig gezackt in
einem kurzen Motiv, blitzschnell wechselnd zwischen Piano und Fortissimo, faszinierend dicht in der kompositorischen
Struktur. Doch selbst in solchen Verdichtungen bewahrt die Musik des 2. Bratschenkonzerts ihre klangliche Formung,
eine Schönheit des musikalischen Sprechens, der nichts Anrüchig-Romantisches anhaftet,
auch nicht in Momenten, die von fern an Alban Berg denken lassen oder mehr als kleiner Scherz
an Rossini, wenn gleich zur Eröffnung das Geräusch einer kleinen Trommel (Anmerkung in der Partitur:
Unwirklich, nicht fassbar, nicht ortbar) an Ouvertüren-Auftakte des italienischen Opernkomponisten
erinnert: Auch dort, wenn richtig gespielt, Momente des Abwartenden, Lauernden: Man weiß nicht so recht,
was gleich danach kommen wird.
Dass Rihm an einer kurzen, leisen Stelle ein bekanntes Kinderlied durch die Solo-Bratsche zitieren
lässt, mag einer privaten Obsession entspringen: Eine Variation vielleicht des Andenkens
an einen Engel aus Bergs Violinkonzert?
Hans Zender hatte, assistiert vom Dirigenten David Coleman (dieser wird auf der Tournee einige der Konzerte
übernehmen), Rihms Partitur mit der Jungen Deutschen Philharmonie intensiv probiert, das Ergebnis nötigt
mehr als nur Respekt ab. Auf der Konzertreise wird sicher noch der letzte Rest an Gelöstheit hinzukommen,
der die Klangrede noch plastischer und beweglicher hervortreten lässt. Aber die jungen Musiker
können sich das alles ja von einem imponierenden Vorbild ablesen, das leibhaftig vor ihnen agiert: Tabea
Zimmermanns Adaption des Solo-Parts geriet schon im Vorkonzert schlechthin vorbildhaft und bannend: Für
die Bratschisten in aller Musikwelt steht mit Rihms Zweitem eine neue, große und lohnende
Herausforderung bereit.
Mit Schuberts Siebter Sinfonie in h-Moll, der Unvollendeten, offenbarte sich, wie überlegt
die Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie ihre Programme in eigener Zuständigkeit komponieren
(wobei sicher im einen oder anderen Fall und vielleicht auch hier der Dirigent beratend zur Seite steht). Ausdiskutiert
und letztlich überflüssig ist die Frage nach dem Grund der Nicht-Vollendung der Sinfonie: Diese Betrachtung
nähert sich dem bloßen Formalismus, orientiert sich am viersätzigen klassischen Sinfonieschema
eines Beethoven. Der düstere Mystizismus, der sich durch bedeutungsschwere, oft verquaste Interpretationen
über Schuberts Sinfonie gelegt hat, mag diesen retrospektiven Aspekt zusätzlich verstärkt haben.
In neuerer Zeit aber änderte sich der Blick auf die Unvollendete. Ohne sklavisch den Entdeckungen
des Musikforschers Arnold Schering zu folgen, der schon in den 1930er-Jahren formale und thematische Übereinstimmungen
zwischen einer sehr persönlichen, quasi autobiografischen Erzählung des Komponisten (über dessen
problematisches Verhältnis zu seinem Vater) und dem Aufbau und emotionalen Gehalt der beiden Sinfoniesätze
darlegte, lässt sich in der komponierten Gestik der Sinfonie, ihren Pausen, assoziativen Einsprengseln,
in der emotionalen Bewegtheit ein hohes Maß an Sprachcharakter feststellen. Sie erzählt
in ihrem Gesang etwas von inneren Zuständen, von seelischer Verzweiflung und Not, doch stets in einem symphonisch-fließenden
Sprech-duktus, der auch in Momenten des Stockens, des Pausierens nicht unterbrochen erscheint, wenn
ein Dirigent sich nicht aufgesetzter Gefühlsschwermut hingibt. Dieser Sprach-Charakter der Sinfonie trat
in Zenders Darstellung mit der Jungen Deutschen Philharmonie plastisch hervor, ohne dass dabei über klangliche
oder strukturelle Profile flott hinwegmusiziert wurde, im Gegenteil: die gern ins Raunend-Melancholische abschweifende
Unvollendete präsentierte sich hier als ein sozusagen feuerfestes Stück symphonischer
Musik von hoher Beredtheit.
In dem so geschwungenen Bogen von Rihms Bratschenkonzert zu Schuberts Sinfonie, zwei nach innen zielenden
Sprach-Gesängen, fügte sich mit einer eigenen Ton-Sprache Hans Zenders Bardo-Komposition
für Violoncello und Orchester nahtlos ein. Zender, Komponist, Dirigent und guter Kommentator in Personalunion,
empfängt im Fernöstlichen immer wieder Impulse für sein Komponieren. Bardo bedeutet
im Tibetanischen zwischen. Zwischen Solo-Instrument und Orchester-Tutti entsteht in
zweimal fünf Abschnitten ein lebhaftes Korrespondieren. Zwischen einem Vierteltonintervall
pendelt auch die Harmonik mit Einzeltönen und Akkordketten, schließlich gehört es
zu den Phänomenen von Musik, jeweils zwischen ihrem Anfang und Ende gleichsam ausgespannt zu sein.
Zender entdeckte darüber hinaus aber auch noch Anschaulicheres: Ein Tibetanisches Totenbuch
(Originalname: Bardo Tödrol), das in beseligenden und schreckhaften Bildern den Weg der Gestorbenen in
einem Zwischenreich schildert, eine Art Danteskes Purgatorium. Zender bekennt, dass diese Totenbuch-Bilder
ihn bei der Komposition begleitet haben, vor seinem Bewusstsein standen. Etwas von der Bild- und
Sprachkraft dieses Totenbuchs findet sich in der Musik von Bardo wieder, nicht als Illustrierung,
sondern als eigenständiger, in Musik übersetzter Ausdruck, der zwischen Innensicht und
Außenwirkung zu wechseln scheint. Eine Musik von großer innerer Kraft und Energie, Klangfantasie
und sprechender Expression. Der Solist Gustav Rivinius, mit einem Rundbogen bewaffnet, der das gleichzeitige
Bestreichen aller Saiten gestattet, leistete schlicht Groß-artiges. Ebenso das Orchester unter Zenders
authentischer, umsichtiger Direktion. Die Junge Deutsche Philharmonie darf dieses Frühjahrskonzert unter
der Rubrik Ereignishaft in die Orchestergeschichte eintragen.