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nmz-archiv
nmz 2002/04 | Seite 51
51. Jahrgang | April
Dossier: Schulmusik 2002
Jenseits der Sprachlosigkeit fängt die Zukunft an
Wege und Ziele musikethnologischer und musikpädagogischer Zusammenarbeit
Im Oktober 2001 stimmte der Senat der Hochschule für Musik und Theater Hannover einem Gründungsbeschluss
zu, der die Errichtung eines Studienzentrums Weltmusik zum Ziel hatte. Die folgenden Überlegungen
spiegeln einen Teil der Diskussionen wider, die dem Errichtungsbeschluss vorausging.
Eines der zentralen Anliegen des Studienzentrums besteht darin, die weitgehende Sprachlosigkeit zwischen Musikpädagogen
und -ethnologen in Deutschland zu durchbrechen. Beide haben sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig zu sagen
gehabt und das mit schwerwiegenden Folgen insbesondere für die Musikethnologie: Ohne Übertreibung
kann ihre Situation als katastrophal bezeichnet werden, haben doch die geradezu dramatischen Stellenverluste
innerhalb der letzten zehn Jahre zu einem weitgehenden Niedergang dieser einst von Erich Moritz von Hornbostel
in Berlin begründeten Disziplin geführt. Angesichts des Ausstrahlens zahlreicher lokaler Musikszenen
auf einen globalen Musikmarkt und, daraus resultierend, einer enormen Bedeutung der außereuropäischen
Musik für den Musikkonsum in Deutschland hat dies zu der aberwitzigen Situation geführt, dass die
musikethnologische Repräsentation an Hochschulen und Universitäten geringer ausfällt als die
altägyptischer Papyrus-Forscher. Die Gründe liegen zum einen in dem Schrumpfungsprozess, dem die gesamte
Musikwissenschaft ausgesetzt war, zum anderen in der einseitigen Ausrichtung der Musikethnologie auf eine rein
universitäre Grundlagenforschung, die sich wenig um ihre Anwendungsbereiche kümmerte und
darauf vertraute, im vermeintlichen Schutz der Universität als exotischer Tupfer der Musikwissenschaft
überleben zu können. Zur gesellschaftlichen Legitimation, die sich unter anderem im Stellenerhalt
niedergeschlagen hätte, hat dies wohl nicht gereicht.
Bettina Sahrmann erteilt Studierenden der Hochschule für Musik und Theater
Hannover auf den Instrumenten des Niedersächsichen Landesmuseums Unterricht im indonesischen Gamelan-Spiel.
Foto: Raimund Vogels
Nicht weniger problematisch stellt sich die Situation der Musikpädagogik dar: Trotz neuerer Bestrebungen,
auch die so genannten musikalischen Jugendkulturen einzubeziehen, dominiert im Fach weitgehend das
Hochkultur-Paradigma des 19. Jahrhunderts, das die Musikpädagogik mehr und mehr von seinen
Schülern entfernt. Die meisten Überlegungen zur Musikdidaktik basieren unverändert auf dem ästhetischen
Konzept Kunstmusik, das aus der Historischen Musikwissenschaft entlehnt wurde. Der Blick in die
Schulmusikbücher scheint diese negative Zustandsbeschreibung zunächst nur bedingt zu bestätigen.
Sowohl die Fülle der Lieder aus Afrika und Südamerika als auch die stellenweise sehr ernsthaften Auseinandersetzungen
mit außereuropäischen Musikphänomenen deuten auf einen reichen Austausch beider Fachdisziplinen.
Dass dieser tatsächlich aber kaum stattgefunden hat, lässt sich schon daran ablesen, dass die überwiegende
Mehrzahl der musikethnologischen Bemühungen von musikpädagogischer Hand stammt. So fundiert diese
Darstellungen der afrikanischen oder asiatischen Musik teilweise auch sein mögen, sie bleiben meist isolierte
Einzelfälle, bei denen musikalische, eventuell auch gesellschaftliche Oberflächen beschrieben werden,
ohne damit einen grundlegenden Paradigmenwechsel einzuleiten, der zu einem vertieften Verständnis der eigenen
Musikkultur führte.
Die Sprachlosigkeit zwischen Musikethnologen und Musikpädagogen äußert sich also nur bedingt
im Mangel an Arbeitsblättern zur Musik Afrikas oder Asiens. Das eigentliche Problem liegt im grundsätzlichen
musikpädagogischen Festhalten an einem Hochkultur-Paradigma im Gegensatz zum relativistischen
Kultur- und Musikbegriff der Musikethnologie.
Welche Chancen würde ein solcher Paradigmen-Wechsel eröffnen?
Kennzeichnend für einen relativistischen Ansatz des Kulturverständnisses ist die Akzeptanz der immanenten,
jeweils eigenen Kriterien des Ortes und der Zeit, das heißt die Kultur des Anderen kann nur aus sich selbst
und nicht durch von außen herangetragene Wertigkeiten gedeutet werden. Diese Offenheit erlaubt zugleich
die Reflexion der eigenen Kultur, durchaus im Sinne des Vergleichs, auf der Grundlage der Kenntnis eines oder
mehrerer gleichwertiger anderer Systeme. Dazu ein Beispiel: Tonsysteme und Stimmungen anderer Kulturen werden
noch von Studierenden der ersten Semester regelmäßig als verstimmt, noch nicht entwickelt, primitiv
et cetera wahrgenommen. Zu erklären sind diese Urteile nur damit, dass das eigene chromatische Tonsystem
nicht als historisch und regional Gewachsenes verstanden wird, sondern als ein Endpunkt in der Entwicklung der
Tonraumorganisation schlechthin. Es bedarf des selbstverständlichen Umgangs mit selbst entwickelten Fantasieleitern,
etwa durch selbst gebaute Flöten, und der Kenntnis anderer Stimmungssysteme, um zu einem veränderten
Urteil über das Tonsystem der eigenen Kultur zu gelangen und dadurch zugleich die Toleranz gegenüber
der anderen Kultur zu fördern. Denkbar wären solche Formen des zeitweise sehr bewussten Verzichts
auf die europäischen Traditionen in der Materialorganisation auch im Bereich des Komponierens, der Melodiebildung
oder der Rhythmusorganisation. Neben der Verbesserung des Reflexionsniveaus könnte damit auch das kreative
Potenzial der Schüler im Unterricht besser ausgeschöpft und gefördert werden.
Unmittelbar mit der relativistischen Sichtweise ist auch die Notwendigkeit verbunden, Kultur und, darin eingeschlossen,
Musikkultur als organisches Ganzes zu begreifen. Denn selbstverständlich bedeutet in der Wahrnehmung der
Kinder und Jugendlichen Musik mehr als Notentext, CD und Videoclip. Vielmehr geht es um grundlegende Fragen
der Identität und Selbstkonstruktion, in der eigenen wie in der fremden Kultur. Gerade in diesem Zusammenhang
bietet die ganzheitliche Sicht auf Kultur besondere Möglichkeiten des fächerübergreifenden und
-verbindenden Unterrichts zwischen Musik und anderen Fächern, insbesondere mit Religion, Ethik, Geschichte,
Geografie, den Sprachen, Kunst oder Sport. Mit der wichtigste Beitrag der Musikethnologie für den Musikunterricht
liegt in der Förderung der Toleranz gegenüber dem ausländischen Mitschüler. Gerade die Vorstellung
einer unerreichten Höhe der eigenen, abendländischen Musikkultur, die durch das Hochkultur-Paradigma
perpetuiert wird und die sich durchweg, etwa in den Genie-Darstellungen, zwischen den Zeilen der Schulmusikbücher
lesen lässt, verbaut aber den Weg zur selbstverständlich gleichberechtigten Akzeptanz des musikalisch
Anderen. Die Betonung der eigenen Kulturhöhe, häufig als Argument für die Legitimation des Musikunterrichts
überhaupt verwendet, schließt unausgesprochen das geringere Niveau der fremden Kultur ein.
Die hier angemahnte engere Verbindung zwischen Musikethnologie und Musikpädagogik zielt also vor allem
auf den Rückbezug der Musikethnologie auf die eigene Musikkultur. Diese musikpädagogisch motivierte
Repatriierung der Musikethnologie hat neben der Schaffung von Toleranz für den Kulturfremden, egal ob türkischer
Nachbar, balinesischer Hotelangestellter oder ghanaischer Trommelspieler, vor allem die Aufgabe, bei den Schülern
zu einer verbesserten Verortung der eigenen Musikkultur beizutragen. Wie stark unser Denken durch die Standortgebundenheit
unserer Sprache und Begriffe bestimmt wird, ist nicht primär als abstrakte Idee zu vermitteln sondern vor
allem durch den Gegenentwurf, an dem man sich reibt und der die eigene Position relativiert und sie dadurch
zugleich erst bewusst macht. Kurz: das Ziel musikpädagogischer und -ethnologischer Kooperation muss in
der wesentlichen Verbreiterung des Diskurses im Musikunterricht liegen, der sich nicht mehr primär an Deutungsmodellen
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientiert, sondern verstärkt Fähigkeiten der interkulturellen
Kompetenz und Selbstreflexion fördert. Angesichts einer Entwicklung im 20. Jahrhundert, bei der sämtliche
Musikformen vom Jazz bis zur artifiziellen Musik unter Einschluss der außereuropäischen Musik und
der Popularmusik in ein Übergangsfeld getreten sind, erscheint diese Forderung auch durch das musikalische
Material der Gegenwart selbst vorgegeben zu sein.
Das in Hannover gegründete Studienzentrum hat sich die Aufgabe gestellt, in inter- und intradisziplinärer
Zusammenarbeit auf die veränderten Anforderungen einer globalen Musiklandschaft zu reagieren. In seiner
jetzigen Zusammensetzung arbeiten ein Jazz-Experte, ein zeitgenössischer Komponist, ein Experte für
jüdische Musik, ein Musikpädagoge und ein Musikethnologe gemeinsam an dem Aufbau des Instituts im
Sinne des oben skizzierten Paradigmenwechsels mit folgenden Arbeitsschwerpunkten:
Organisation von Seminaren und Workshops,
Vertiefung von Studienschwerpunkten,
Lehrerfort- und -weiterbildung,
wissenschaftliche Nachwuchsförderung,
Drittmittelanwerbung für Forschungsprojekte,
Publikationstätigkeit,
Kooperationen mit kommunalen und staatlichen Institutionen zur Förderung der Begegnung von Musikern
unterschiedlicher kultureller Herkunft.
In der Zusammenarbeit der beteiligten Hochschullehrer sollen Synergieeffekte sowohl finanzieller als auch inhaltlicher
Art erzeugt werden, die es der Hochschule ermöglichen, ohne zusätzliche, insbesondere finanzielle
Belastung, die obigen Ziele zu erreichen. Einem dieser Ziele scheinen wir schon jetzt ein erhebliches Stück
näher gerückt zu sein: Von Sprachlosigkeit innerhalb des Studienzentrums kann wirklich nicht mehr
die Rede sein.