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nmz-archiv
nmz 2002/04 | Seite 19
51. Jahrgang | April
Rezensionen
Skandal im Taschenformat
Der Jahrhundert-Ring von Patrice Chéreau und Pierre Boulez auf DVD
Manche Opern-Skandale entstehen, weil eingefahrene Sichtweisen plötzlich nicht mehr greifen. Andere wiederum
sind nur Theaterdonner und Tagesgeschehen, kurze Zeit allgegenwärtig und schnell vergessen. Und in welche
Kategorie gehört das Bayreuth-Spektakel von 1976?
Nach 14 Stunden vor dem Fernsehgerät schüttelt man zuallererst einmal den Kopf: War das wirklich
jener Jahrhundert-Ring, der kultivierte Musikliebhaber zu Protestaktionen und einem Trillerpfeifen-Konzert
im ehrwürdigen Haus am Grünen Hügel animierte? 1976 reagierte man so auf die Premiere von Patrice
Chéreaus Inszenierung der Götterdämmerung. Schon vier Jahre danach war davon keine
Spur mehr: Als 1980 die letzten Aufführungen über die Bayreuther Bühne gingen, da hatte sich
Zorn in Zustimmung verwandelt manchmal sogar in kritiklosen Fanatismus (man erinnere sich nur an die
Hagiografie der damaligen Presse). Im selben Jahr zogen übrigens auch die Firma Unitel und der Bayerische
Rundfunk ins Festspielhaus ein um in gut zwei Wochen den Chéreau-Ring auf Celluloid zu bannen
(nur die Götterdämmerung wurde bereits 1979 aufgezeichnet). So entstand die erste Ring-Aufzeichnung
fürs Fernsehen, eingefangen von der sensiblen Bildregie Brian Larges. Philips präsentiert das Dokument
nun auf DVD: Sieben VHS-Kassetten mit einer Breite von 22 Zentimeter schrumpften auf vier schlanke DVD-Cases,
die im Video-Regal lediglich 6 Zenzimeter beanspruchen der Skandal im Taschenformat. Blanker Hass und
schrankenlose Verehrung mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Premiere ist beides schwer nachvollziehbar.
Denn: Nur weil die Handlung in die Ära der frühen Industrialisierung verlegt wurde, wirkt das Ganze
noch lange nicht kommunistisch oder gar primär politisch. Genau das aber wurde Chéreau
nach der Premiere zum Vorwurf gemacht und es ist heute so unverständlich wie damals. Ohnehin verwies Peter
Dannenberg schon 1976 darauf, dass die Kapitalismus-Kritik der Tetralogie anderswo längst viel deutlicher
und grundsätzlicher inszeniert worden ist; dass der Jahrhundert-Ring im Vergleich dazu
eher die Position der konservativen Gegenrevolution einnehme. Warum aber kam es dann zum Eklat?
Lebte Richard Wagner heute noch, er würde in Hollywood arbeiten das vermutete sein Enkel Wieland
Wagner einmal und wer den Chéreau-Ring gesehen hat, der wird dieser Annahme wohl zustimmen. Der Franzose
und sein Ausstatter-Team (Richard Peduzzi, Bühne; Jacques Schmidt, Kostüme) realisierten ihre Bilderträume
nämlich mit filmischen Mitteln: Die Rheintöchter räkeln sich vor einem Staudamm, Walhall ist
ein gründerzeitlicher Prachtbau, Notung wird im Hochofen geschmiedet. Das alles ist in Grautönen gehalten
und so subtil ausgeleuchtet, dass etwa der Walkürenfels wie ein Bild von Caspar David Friedrich wirkt.
Dass man sich dennoch an Film-Ästhetik erinnert fühlt, das liegt auch an der Personenführung
weil die Figuren vital und natürlich agieren, weil sich Aktionen und Reaktion an dem orientieren,
was gesungen wird. Das so entstehende Beziehungsgeflecht der Protagonisten hält einen immer am Denken.
Dass ich das einhellige Lob im Jahr der Absetzung dennoch nicht ganz teilen kann, liegt zum einen am Dirigenten
Pierre Boulez. 1981 erschien die Video-Produktion auch als Audio-Ableger und zugegeben machen etliche Orchesterstellen,
die vor dem Lautsprecher fahrig wirkten, in Kombination mit dem Bild plötzlich Sinn. Trotzdem klingt bei
Boulez für meine Begriffe vieles unbeteiligt und gefühlsarm; nicht so hingebungsvoll wie im legendären
Ring unter Solti, aber auch nicht so fein und subtil wie in der Einspielung von Karajan.
Auch mit den Leistungen der Sänger kann ich mich nicht recht anfreunden. Gwyneth Jones als Brünnhilde
etwa: Bei allem Respekt für ihre schonungslose Identifikation mit der Figur aber an den exponierten
Stellen klingen manche Spitzentöne grell und unsauber intoniert. Manfred Jung hingegen bewältigt die
heikle Partie des Siegfried gut und hinterlässt dennoch wenig Profil. Dagegen zeigt Heinz Zednik als Mime
und Loge einmal mehr, dass er ein Charakterdarsteller ersten Ranges ist. Auch Hermann Becht als Alberich und
Fritz Hübner als Hagen beweisen optisch und akustisch viel Mut zur Gestaltung. Aber die Tetralogie steht
und fällt eben doch mit ihrem Wotan: Donald McIntyre klingt und agiert eher matt. Jedenfalls im Vergleich
zu einem Hans Hotter, der als Wotan die noch immer gültigen Maßstäbe gesetzt hat. Nachzuhören
ist das etwa in der diskografischen Großtat Georg Soltis. Was der quirlige Ungar getan hat, um seine Sänger
zu solch nachhaltigen Leistungen zu motivieren, dem können Wagner-Enthusiasten auch auf Video nachspüren:
Dieser Tage erscheint ein Making of der Solti-Aufnahmen unter dem Titel The Golden Ring
auf DVD. Im Video-Regal ist ja jetzt ausreichend Platz...
Oliver Wazola
R. Wagner: Der Ring des Nibelungen. Donald McIntyre (Wotan, Der Wanderer), Heinz Zednik (Loge, Mime), Hermann
Becht (Alberich), Hanna Schwarz (Fricka) , Matti Salminen (Fasolt, Hunding), Fritz Hübner (Fafner), Peter
Hofmann (Siegmund) u.a., Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele, Pierre Boulez; Inszenierung: Patrice
Chéreau, Bühnenbild: Richard Peduzzi, Kostüme: Jacques Schmidt; Bildregie: Brian Large (1979/80)
Philips 7 DVD Box 070407-9 (auch einzeln erhältlich)
The Golden Ring The making of Soltis Ring. Mit B. Nilsson, G. Frick,
W. Windgassen, D. Fischer-Dieskau; Wiener Philharmoniker, Sir Georg Solti; Regie: Humphrey Burton (1965)
Decca DVD 071 153-8