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nmz-archiv
nmz 2002/04 | Seite 17
51. Jahrgang | April
Rezensionen
Aufstand im Museum
Der Freischütz in einer neuen Aufnahme
Don Giovanni lebt in der Bronx und Sarastros Reich liegt andernorts als von Schikaneder beschrieben
die Zauberflöte spielt unterm Highway: Cop und Komtur, Koloraturen und Karossen, Blaulicht
und Ballett Mozart im 20. Jahrhundert.
D er Zankapfel ist nicht gegessen und wird es wahrscheinlich nimmer: Ist die Oper, zumal der vergangenen vier
Jahrhunderte, noch zeitgemäß? Wie kann sie heute wirken? Lässt sich mit der Oper des 18. Jahrhunderts
das 20. Jahrhundert erklären? Peter Sellars Mozartinszenierungen, seine Versuche, sie gegenwärtig
zu machen, polarisierten die Operngemeinde. Endlich!, jubelten die einen. Endlich jemand, der diesen
alten Opern den Staub der Jahrhunderte aus den Kostümfalten bläst und sie von der Bühne holt,
hinein in die Gegenwart! Ganz und gar und unmöglich! hielten die anderen dagegen. Was hat das
noch mit Mozart zu tun?! Zeitgeist auf Biegen und Brechen. Und die dramaturgische Kreativität, so scheint
es, beschränkt sich auf Äußerlichkeiten, wenn sie Parallelen und Verbindungen ins Heute versucht,
die weder Libretto noch Musik zu leisten vermögen. Was also tun? Die Opern zurücklassen in den Schaukästen
der Musikgeschichte? Ausstellungsstück! Bitte nicht berühren!? Oder doch Aufstand im Museum?
Als Webers Freischütz am 18. Juni 1821 am Berliner Gendarmenmarkt mit wahrhaft sensationellem
Erfolg uraufgeführt wurde, saß inmitten damaliger Prominenz auch ein Kritiker der Vossischen
Zeitung es war kein geringerer als der Dichter und Komponist E.T.A. Hoffmann. Wir wissen, wie sehr
Weber die Rezensionen Hoffmanns zum Freischütz gekränkt hatten. Ihr spöttischer Ton
und die nadelstichähnlichen Attacken auf das Werk wiesen den Kritiker als Anhänger Gaspare Spontinis
aus, jenes vom Berliner Hof gehätschelten Komponisten und Generalmusikdirektors der Hofoper, und damit
gleichwohl Kontrahent Webers. Hoffmann jedoch beschrieb treffend den kulturellen Hintergrund, vor dem er die
Uraufführung des Freischütz erlebte, charakterisiert schon damals vom ständig wachsenden
Bedürfnis nach schauriger Unterhaltung. Das Höchste, wozu der exaltierteste Geist auf dieser
Richtung gelangen konnte, ward ersonnen in der Erzählung Der Vampir, schrieb er. Und
dieser Vampirismus ist es denn, der in der Poesie des Augenblicks (und nicht nur in Deutschland) allmächtig
spukt. Man will nicht ergriffen, nicht gerührt, man will gepackt, geschüttelt werden, es soll sich
das Haar sträuben, der Odem stocken und die Poesie hat ihre Wirkung getan! Tatsächlich
findet man in der Rezeptionsgeschichte des Freischütz neben dem Umgang mit diesem ungeheuer
vielfältigen musikalischen Material auch jenen Aspekt bestätigt: die Wolfsschlucht, das
Gießen der Freikugeln, Samiels Erscheinen und schließlich Kaspars schauriges Ende im Finale
je aufwendiger die Inszenierungen desto wirksamer das Stück. Aber abgesehen davon, dass das Publikum von
heute übersättigt ist von Reizen, von denen damals noch gar keine Rede sein konnte hat eine
Märchenoper, die zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges spielt, überhaupt noch
Bestand im Zeitalter von Mickey Mouse und Lara Croft? Von Rudolph Kempe über Wilhelm
Furtwängler, Karl Böhm, Carlos Kleiber und Nikolaus Harnoncourt die Antworten auf diese Frage,
so unterschiedlich sie bislang ausfielen, erfahren jetzt eine eindrucksvolle Ergänzung. Im Mai 2001 dirigierte
Bruno Weil, der schon mit dem vielbeachteten Endimione Johann Christian Bachs einen Überraschungscoup
gelandet hatte, in Köln und Potsdam eine konzertante Aufführung des Freischütz. Musikalisch
wie dramaturgisch eine bemerkenswerte künstlerische Unternehmung, die, wiederum in Kooperation mit dem
WDR, jetzt bei Deutsche Harmonia Mundi (dhm-BMG Classics) erschienen ist.
Was aber gab es an einem Freischütz Neues zu entdecken oder zu gestalten, das nicht längst
gewusst und umgesetzt wurde? Etwa eine moderne Inszenierung im oben genannten Sinne: Max und Kaspar
in der Kluft der Paschtunen, ausgerüstet mit Maschinengewehren irgendwo in den Bergen Afghanistans
und Samiel mit den Zügen Osama Bin Ladens? Gottlob: nein! Und zeitgemäß dennoch. Bruno Weil
stieß sich, wie wahrscheinlich jeder Dirigent oder Regisseur, der sich des Freischütz
annimmt, an den Schwächen des Librettos von Friedrich Kind und damit auch an den dramaturgischen Laxheiten.
Sie werden besonders da offenbar, wo, den Gesetzen des Singspiels entsprechend, gesprochene Dialoge den musikalischen
Fluss ritardieren, gar unterbrechen, um die Handlung zu erklären und voranzutreiben. Für Weil ist
es grundsätzlich von Nachteil, dass, wenn man Opern konzertant spielt oder aufnimmt, die Dialoge immer
irgendwie künstlich klingen, nicht dazugehörig. Diese Erfahrungen, sagt er, habe er immer wieder machen
müssen. Bis wir es 1986 in Wien bei Schuberts Des Teufels Luftschloß mal mit einem
Sprecher probiert haben, erzählt er. Es hat hervorragend funktioniert. In diesem Fall nun kommt
etwas hinzu, woran bei Schubert nicht zu denken war: Man kann heute davon ausgehen, dass die Handlung des Freischütz
bekannt ist.
Eingedenk dieser Erfahrung schlug Bruno Weil vor, die sprachlich schwachen Dialoge durch neue Zwischentexte
zu ersetzen um die eigentliche Problematik des Stückes in einem Ausdruck zur Sprache zu bringen,
wie man sie heute spricht. Die eigentliche Problematik? Das ist doch ein Stress-Stück
par excellence! Es geht um Prüfungsängste jeglicher Form. Ein Mensch wird unter Druck gesetzt
das passiert heute, wie vor 200 Jahren! Ein Mensch verliert seine Kontrolle und ist zu irrationalen Handlungen
bereit. Er lässt sich sogar mit dem Teufel ein, und es ist die Gesellschaft um ihn herum, die ihn letztlich
dazu treibt darum geht es in diesem Stück. Weil, für den Webers Musik diese psychologische
Situation auf unglaubliche Weise schildert, kommt es darauf an, zu zeigen, dass der Freischütz
nicht einfach nur ein Märchen aus dem Dreißigjährigen Krieg ist.
Steffen Kopetzky, ein junger Romancier, Theaterdichter und Ingeborg-Bachmann-Preisträger, wurde für
diese Unternehmung gewonnen und sein Beitrag verleiht dem Stück dramaturgisch eine ungewöhnliche Perspektive
der anonyme Erzähler bekommt einen Namen: Samiel. Der Zuhörer erlebt Max Konflikt mit
der Leistungsgesellschaft, maßgeblich repräsentiert durch Kuno, den Erbförster,
den reichen Bauern Kilian und letztlich auch durch Agathe, aus der Sicht des Schwarzen Jägers, der die
Vorgänge kommentiert und die ihnen innewohnende fatalistische Gesetzmäßigkeit aufzeigt. Natürlich
gibt es einen Bruch zwischen der Sprache Kinds und der Kopetzkys. Dieser, in dem Bemühen zu abstrahieren
und zugleich zu erzählen, verdichtet sprachlich, was Kind in seinem Libretto nur ansatzweise zu denken
imstande war.
An dieser Stelle sei die glückliche Hand bei der Auswahl des Sprechers hervorgehoben. Die Auftritte des
Schauspielers Markus John als Samiel, sowohl bei den Konzerten in Köln und im Potsdamer Nikolai-Saal als
auch bei der Aufnahme lassen diesen in einer verblüffenden Momentaufnahme des Bösen mitten unter uns
erscheinen, jenes denkenden, schwarzen Über-Ichs, dessen Ansichten zuweilen auf beklemmende Art plausibel
sind: ...Ihr wollt aus eurer Mitte Menschen fallen sehen/Und wenn ihr seht, wie einer stirbt, erschreckt
ihr euch. Ihr denkt, zu töten wäre schwer. Wo kommen all die Toten her?
Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen...? Wie subtil wird damit jenes romantische
Pathos konterkariert, das so oft im Jägerchor hineininterpretiert wird! Weber kann dieses Pathos nicht
gewollt haben wie sonst ist es zu erklären, dass die Ouvertüre ohne jeden Hinweis gerade auf
dieses Stück bleibt?!
Im wirkungsvollen Kontrast zu diesem durchaus modernen inhaltlichen Ansatz steht nun die musikalische Umsetzung:
Bruno Weil wählte für die Einspielung mit der Capella Coloniensis ein Orchester aus, das
auf Originalinstrumenten musiziert. Und wie! Was zum Beispiel die Naturhörner bereits in der Ouvertüre
von sich geben, verursacht tatsächlich so eine Mischung aus Konzertsaal und abendlichem Halali vor felsiger
Kulisse.
Beim Orchester ging man, orientiert an Mozart, von einer Besetzung aus, wie sie im frühen 19. Jahrhundert
in den Orchestergräben anzutreffen war. Darüber hinaus unternahm Bruno Weil wieder einmal, wofür
er inzwischen bekannt ist: eine Reise in die Originalpartitur. Er trug all die Schichten ab, die sich im Laufe
der letzten 180 Jahre auf dem Original abgelagert hatten. Wir hatten das große Glück,
aus der Kopie des Originalmanuskripts arbeiten zu können, erzählt er. Alle Musiker hatten
das vor sich liegen. Wir haben nur gespielt, was bei Weber im Manuskript steht sonst gar nichts. Jede
Phrase wurde kontrolliert: Wie war die Originalnotation? Hat es im Laufe der Jahre Veränderungen gegeben?
Falls ja, haben wir sie wieder rückgängig gemacht, reduziert, zurückgeführt auf den Willen
des Komponisten. Großartiges leistet in diesem Zusammenhang der Chor, der sich bei genauester Artikulation
mit Orchester und Solisten gleichermaßen im Einklang befindet. Seine Stärke auf dem Gebiet der Intonation
stellt er eindrucksvoll unter Beweis an Stellen, die aufgrund der Instrumentierung nicht ohne Tücken sind:
etwa im Terzett des ersten Aufzuges, wo er in den Klang der Naturhörner eingebettet ist.
Besonderes Augenmerk legte Weil auch auf die Auswahl der Sänger. Der Max ist in vielen Aufnahmen mit Heldentenor
besetzt worden. Der ist ja nun alles, bloß kein Held! Sowohl als Figur, wie auch als Stimme nicht!,
entgegnet Weil. Seine Partie in dieser Oper ist von vorn bis hinten lyrisch. Das ist, denke ich, ein Hauptfehler,
der immer wieder gemacht wird: den Max mit einem Wagner-Tenor zu besetzen von Wagner konnte zur Uraufführung
des Freischütz noch keine Rede sein! Christoph Prégardiens Max vereint
denn auch beides in sich, sowohl jenen Lied-Gestus, wie er kultivierter als in der Arie durch die Wälder,
durch die Auen kaum in Erscheinung treten kann, als auch alle Charakterlichkeit, die der Rolle innewohnt.
Sehen, ohne alles gezeigt zu bekomen, hören, ohne dass alles ausgesprochen wird wo die Oper das
(wieder) vermitteln kann, ist sie heutiger denn je.
Thomas Otto
Carl Maria von Weber: Der Freischütz; Gerhaher, Prégardien, Zeppenfeld u.a., WDR Rundfunkchor
Köln, Bruno Weil
DHM 05472 77536 2