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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 36
51. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Wiener Schule ergänzt durch Berliner Schule
Schönbergs Berliner Meisterschüler in Konzerten und Vorträgen neu entdeckt
Für das Weiterwirken der Lehre Arnold Schönbergs hat sich der Begriff der Wiener Schule
durchgesetzt, obwohl der Komponist seine Geburtsstadt höchst ambivalent betrachtete und viel längere
Perioden außerhalb Österreichs, in Berlin und Los Angeles, unterrichtete. Nie stand er in höherem
Ansehen als zwischen 1926 und 1933, als er als Nachfolger Ferruccio Busonis eine Meisterklasse an der Preußischen
Akademie der Künste leitete. Die Absolventen der damals renommiertesten Ausbildungsstätte für
Komponisten in Deutschland und wohl auch Europa haben bislang nicht die gleiche Beachtung gefunden wie die Berliner
Kompositionsschüler Busonis und Schrekers. Anlässlich von Schönbergs 50. Todestag wurde dieses
Defizit in Berlin mit einer ganzen Serie von Veranstaltungen korrigiert, deren Vielfalt und Niveau gleichermaßen
beeindruckte.
Dem waren, wie Wilhelm Holtmeier erläuterte, langjährige Vorarbeiten vorausgegangen. Vor allem Peter
Gradenwitz, einst selbst in Berlin Kompositionsschüler bei Josef Rufer und Hanns Eisler, hatte mit detektivischem
Spürsinn die Schicksale der Berliner Schönberg-Schüler erforscht, die sich nach 1933 in alle
Welt zerstreuten. Schon 1996 hatte Gradenwitz in Freiburg einen Querschnitt der wiedergefundenen Partituren
vorstellen wollen, angesichts der oft ungeklärten Rechtslage aber resignieren müssen. Das Scheitern
des Freiburger Festivals bewog Holtmeier, die Rechtsnachfolger zu eruieren und die Drucklegung der wichtigsten
Werke vorzubereiten. Den jetzigen Veranstaltungsmarathon, ergänzt durch die Ausstellung Schönberg
in Berlin, die die Akademie vom Wiener Arnold Schönberg Center übernahm, konnte er durch die
Partnerschaft mit dem Ensemble Oriol Berlin, der Akademie der Künste, dem Konzerthaus und durch die großzügige
Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds realisieren.
Holtmeier schwebte nichts Geringeres vor, als die bekannte Wiener Schule durch eine Berliner
Schule zu ergänzen. Anders als Gradenwitz, der angesichts der stilistischen Vielfalt der damals entstandenen
Werke eine Berliner Schultradition leugnete, sah er diese in Gemeinsamkeiten bei der Behandlung des musikalischen
Materials. Ausgehend von Schönbergs eigener Bewertung konzentrierte er sich auf wenige Namen: auf den aus
Siebenbürgen stammenden Norbert von Hannenheim, den Katalanen Roberto Gerhard, den Griechen Nikos Skalkottas
und die beiden Schweizer Erich Schmid und Alfred Keller. Obwohl sie nicht im gleichen Maße Weggefährten
ihres Lehrers waren wie Berg und Webern, haben sie dessen Impulse individuell weiterentwickelt.
Die interessanteste und zugleich schillerndste Gestalt unter ihnen war Norbert von Hannenheim (1898 bis zirka
1945). Die Erfahrung des Weltkrieges erschütterte ihn noch mehr als den gleichaltrigen Hanns Eisler, so
dass er erst im Alter von 31 Jahren in Schönbergs Klasse kam. Da sein Leben und Sterben bis heute rätselhaft
blieben und aus seinem umfangreichen uvre nur wenige Werke erhalten blieben, eignet er sich für Legendenbildung.
Albert Breier verglich ihn mit einer Gestalt E.T.A. Hoffmanns, während Herbert Henck ihn in einer merkwürdigen
Grauzone zwischen dem Göring-Intimus Carl Clewing und dem einstigen Reichskunstwart Edwin Redslob ansiedelte.
Weitere Aufschlüsse über Hannenheims Schicksal sind von einem Aufsatz zu erhoffen, den Gradenwitz
noch kurz vor seinem Tod abschloss. (Dieser Aufsatz erschien inzwischen unter dem Titel Glanz und Elend
des Norbert von Hannenheim in Heft 4/2001 von Die Musikforschung.)
Als ähnlich faszinierend wie seine Biografie erwiesen sich seine Werke, vor allem die zweisätzige
Sonate für Viola und Klavier Nr. 1 (1936/37), die Isabelle von Keulen und Alexander Lonquich mitreißend
spielten. Hannenheim hat sich hier vom klassischen Formdenken des Lehrers befreit und in Anlehnung an Vorbilder
des 17. Jahrhunderts zu einer motorisch geprägten Linearität gefunden, die mit ähnlichen Entwicklungen
Stefan Wolpes korrespondiert. Während in den von Henck virtuos dargebotenen Klaviersonaten der abrupte
Wechsel von dürrer Einstimmigkeit und wucherndem Figurenwerk irritierte, erzielten Franziska Hirzel und
das von Werner Herbers kundig geleitete Ensemble Oriol bei Hannenheims Rilke-Vertonung Todeserfahrung
(attraktiv instrumentiert von Geert van Keulen) eine geradezu beklemmende Wirkung. Ein einziger Akkord lieferte
hier den Tonvorrat für Permutationsverfahren, die von Schönbergs berühmtem Farbenstück aus
op.16 direkt zu Morton Feldman überleiten.
Auch für seinen Schüler Nikos Skalkottas (19041949) hat sich der Lehrer mit Verve eingesetzt.
John Thornley verwies auf dessen Freundschaft mit dem Busoni-Schüler Dmitri Mitropoulos, mit dem er im
gleichen Berliner Haus lebte. Wie Schönberg und andere seiner Mitschüler hat Skalkottas die Stadt
1933 überstürzt verlassen. Erst nach seinem Tod fand man einige der hier entstandenen Partituren,
so die Sonate für Violine allein, die belegt, dass der Grieche schon 1925 ein fertiger Komponist war. Das
1931 während des Unterrichts entstandene Oktett, das zum Abschluss der Berliner Konzertreihe erklang, überraschte
durch pointierte Satzschlüsse. Noch mehr überzeugte die Eleganz und Klangsinnlichkeit seiner Kleinen
Suite für Streichorchester aus den 40er- Jahren.
Nicht zuletzt dank der Aktivitäten von David Drew gehört der nach England emigrierte Katalane Roberto
Gerhard (18961970) heute zu den bekanntesten Berliner Schönberg-Schülern. Die logische Tonsprache
seines Lehrers integrierte er in Kompositionen, die dessen rhythmische Beschränkungen aufbrachen. Sein
1929 in Barcelona uraufgeführtes Concertino für Streichorchester lehnt sich im Gegeneinander von Soli
und monumentalem Tutti an neobarocke Vorbilder an. Als wirkliche Entdeckungen erwiesen sich die gestische Transparenz
der Kammersymphonie des Amerikaners Adolphe Weiß (18911971) und die impressionistische Klangfülle
der Galgenlieder nach Morgenstern für Sopran und sieben Instrumente des Schweizers Alfred Keller
(19071987). Auch Kellers Klavierkomposition Epitaph für Arnold Schönberg verband
konstruktive Strenge mit großräumiger und suggestiver Klanglichkeit, die Schubert nachzusinnen und
Morton Feldman vorwegzuahnen schien.
In diesem grandiosen Stück dokumentierte sich ebenso die Bindung an den Lehrer wie die Suche nach weiterweisenden
Alternativen. Dagegen wirkten die Fünf Bagatellen op. 14 des kürzlich verstorbenen Schweizers Erich
Schmid, die Christoph Keller in einem Lecture Recital vorstellte, trotz ihrer an Webern erinnernden Dichte eher
monochrom. Immerhin bleibt beachtlich, dass solche Werke in dem avantgardefeindlichen Klima der Schweiz überhaupt
entstehen konnten.
Gerne hätte man mehr erfahren über Peter Schacht, über dessen Billinger-Lieder Holtmeier referierte,
oder über den früh verstorbenen Walter Gronostay, der sich intensiv mit den modernen Medien auseinander
setzte. Wie Iris Pfeiffer am Beispiel seiner Rundfunkoper Mord nachwies, erhielt dabei aber die
Stilisierung von Rhythmen und Geräuschen eine höhere Bedeutung als die Organisation von Tonhöhen.
Holtmeiers Einsatz für die terminologische Neuprägung einer Berliner Schule hatte Claus-Steffen
Mahnkopf schon zu Beginn des gleichnamigen Symposiums skeptisch kommentiert: Eine Schule hätten Schönbergs
Berliner Schüler schon deswegen nicht bilden können, weil ihnen nach 1933 in Deutschland und bald
in ganz Europa dafür der Platz fehlte. Noch kritischer äußerte sich Heinz-Klaus Metzger, der
das Scheitern der Berliner Schule aus dem totalitären Charakter der Zwölftontechnik herleitete.
Allenfalls nach 1950 hätte es eine solche Schule geben können, als Hanns Eisler seinen Mitschüler
Max Deutsch als Leiter einer (Ost-)Berliner Meisterklasse gewinnen wollte, was die politischen Verhältnisse
verhinderten. John Thornley erklärte das Ende der Berliner Schule nicht allein durch Hitler,
sondern auch aus einem gesamteuropäischen Konservativismus. Zudem hatte Schönberg, wie Christoph Keller
im Sinne von Mahnkopf einwandte, manche seiner Schüler eher gehemmt als gefördert.
Wenn überhaupt von einer Berliner Schule die Rede sein kann, dann in einem anderen Sinne als
bei der Wiener Schule. Die einst engen Bindungen zwischen Lehrer und Schülern hatten sich in
der deutschen Hauptstadt versachlicht. Hinter der gespielten Lockerheit, mit der sich der Meister auf einem
Gruppenbild mit seinen Berliner Studenten zeigte, verbargen sich auf beiden Seiten Angst und Unsicherheit. Auch
Schönberg sprach rückblickend von der einzigen Phase in seinem Leben, in der er sich seines Einflusses
auf die Jugend nicht mehr sicher gewesen sei. Insofern hat Gradenwitz mit seinen individuellen Schülerporträts
das wohl realistischere Bild gezeichnet. Mit seinem Insistieren auf dem Materialdenken wollte Holtmeier dem
Lehrer Schönberg in durchaus lobenswerter Absicht nachträglich zu seinem Recht verhelfen. Die bevorstehende
Publikation wichtiger Werke ist dazu eine notwendige Voraussetzung.