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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 35
51. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Prisma irischer Gegenwart
Zum Composers Choice Festival in Dublin 2002
Wie durch ein Prisma gefächert scheint die Bachfuge BWV 876 durch das Kammerorchester. Der irische Komponist
Frank Corcoran (geb. 1944) hat sie als Auftragswerk für das Festival Composers Choice
in Dublin orchestriert, sie aus der Perspektive der Gegenwart neu angeeignet. Die Fuge gehört also zu Corcorans
Reservoir, das sich auf seine eigene Musik bezieht.
Wie auch das Konzert für Kammerensemble von Ulrich Leyendecker (geb. 1946) in demselben Programm.
Die filigranen Klänge sind durchaus als aktuelle Reaktion auf den Barockmeister zu hören: horizontale
Linien bewegen sich von Instrumentengruppe zu Instrumentengruppe, verdichten sich dann vertikal um schließlich
wieder Linien zu bilden.
Ein Prisma der zeitgenössischen Strömungen war auch das Festival selbst, das vom 22. bis 28. März
2002 in der National Concert Hall stattfand. Wobei die Geschichte Irlands von einigen Komponisten in ihren Werken
verarbeitet wurde, so die Legende vom verrückten mittelalterlichen König Sweeny. Ein Text,
den der irische Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney aus dem Gälischen ins Englische übersetzt
hat. Er war anwesend, als die Vertonung dieses Epos von Frank Corcoran, der selbst die Sprecherrolle übernahm,
aufgeführt wurde. Eine imaginative Musik, in der die raue Gesellschaft und der schwankende Charakter des
Königs in unsere Zeit heraufbeschworen wird.
Vergangenheit und Gegenwart ist in doppelter Hinsicht ein Bezugsrahmen für Fergus Johnston (geb. 1959).
Sein Composers Choice waren Barockstücke von François Couperin und Jean-Philippe Rameau, die
er mit Zeitgenossen wie György Ligeti, Anton Webern und natürlich seinen eigenen Kompositionen konfrontierte.
Er meinte dazu: Das Barock- und Renaissance-Repertoire hat meine Musik über eine lange Zeit beeinflusst,
und zwar vor allem in formaler Hinsicht: Also Abschnitte und Tempowechsel zu gestalten. Veränderung ist
das wesentliche Kennzeichen meiner Musik. Eins seiner Werke nimmt sowohl diese Elemente wie auch Elemente
aus irischen Mythen, aus sagenhafter Vorzeit auf: Morrigan ist eine Todesgöttin, die ihr Aussehen
willkürlich ändern kann. Die Musik, für Barockflöte, Cembalo, Viola da Gamba und elektronische
Klänge, verbindet so auf zwei Ebenen historische Linien zu einem Ganzen.
Im Spektrum der zeitgenössischen Komponisten in Irland waren Fergus Johnston, Frank Corcoran und auch,
als wahlverwandter Gast, Ulrich Leyendecker, der westeuropäischen Tradition verpflichtet. Kontrapunkt und
Form sind gemeinsame Merkmale ihrer Musik.
Am Zufall, dem Klang als solchem und experimentellen Bühnenhappenings war eine andere Gruppe interessiert.
Der US-amerikanische Avantgardist John Cage hat Grundlagen für ihr Musikdenken gelegt. Die junge Komponistin
Jennifer Walshe (geb. 1974) hat sich klar zu Cages Prinzipien bekannt, sie sagte: Ich bin mehr an Timbres,
und wie sie Klänge bilden, als an der Funktion eines C-Dur-Akkords interessiert. Entsprechend war
ihr Auftragswerk für das Festival eine Soundcollage für Violine und Stimme. Sie hat, ohne Violinistin
oder Sängerin zu sein, ihre vierteilige Klangfolge vorgetragen.
Zur älteren Generation gehört Seóirse Bodley (geb. 1933). Auch er orientierte sich, zumindest
in seinem Stück Exchange of Letters für Solo-Piano, mehr an Überraschungseffekten
bei Klängen als an dichten Strukturen. Der gesteuerte Zufall, die eingeschränkte Vorhersagbarkeit
ist hier sein Stilmittel. Das streng rationale Nomos Alpha von Yannis Xenakis und die postmodernen
Klavieretüden von György Ligeti ergänzten dieses Konzert. Ligeti hatte auch Michael
McGlynn (geb. 1964) in sein Programm aufgenommen. Vorwiegend Chormusik, die sich längs durch die Jahrhunderte,
von Guillaume de Machaut bis zu den Beatles, erstreckte.