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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 33
51. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Musikstadt Gütersloh
Eine Werkschau von Peter Ruzicka
Wien ist eine Musikstadt, München sicher auch. Paris und London, obwohl eigentlich zu groß, bieten
ebenfalls partielle Musikstadtprofile. Und Gütersloh? Ist Gütersloh eine Musikstadt? Einwohnerzahl
unter hunderttausend, nicht einmal eine richtige Großstadt, bekannt für Fleischwaren, Textilien,
Haushaltsmaschinen, Holz- und Eisenprodukte, und, natürlich, für einen Globalplayer mit Büchern
und Medienzeugs wie könnte in diesem Umfeld blühendes Musikleben gedeihen?
Falsche Vorstellungen. Gütersloh ist eine Musikstadt. Nicht nur, weil Hans Werner Henze hier anno 1926
geboren wurde und heute vornehmlich in Italien lebt, oder weil genannter Globalplayer von Zeit zu Zeit in den
Mauern der westfälischen Stadtidylle einen hochgestochenen internationalen Gesangswettbewerb aufzieht.
Die Qualitäten der Musikstadt Gütersloh liegen woanders und nach außen eher verborgen: In der
reichen Szene des Chorsingens, in den Konzerten mit Kirchenmusik, in der Arbeit der Musikschule mit ihren Konzertreihen,
in den vielen privaten musikalischen Initiativen und, last but not least: In der Person Klaus Kleins.
Klaus Klein leitet das Kulturamt der Stadt Gütersloh und organisiert das allgemeine Musik- und Theaterangebot
für die Musik- und Theaterfreunde von Stadt und Region. Auch Ausstellungen organisiert er, literarische
Lesungen, Jazz und Ballett, alles was eben zu einem normalen gleichwohl gehobenen Kunst- und Kulturangebot gehört.
Ein eigenes Orchester besitzt die Stadt nicht, auch kein eigenes Theater- oder Opernensemble, das würde
die materiellen Kapazitäten entschieden überfordern. Doch gibt es lange und enge Bindungen an kleine
und größere Theaterstädte, aus deren oft recht anspruchsvollen Spielplänen sich Gütersloh
einen eigenen abwechslungsreichen Spielplan zusammenstellt. Osnabrück, Mülheim an der Ruhr, Deutsches
Theater Göttingen heißen einige der Partner. Opern und Operetten kommen vornehmlich vom Landestheater
Detmold. Sogar die Symphoniker aus Hamburg bereichern das Musikangebot, aus München reist das Bayerische
Staatsballett an und aus Hamburg John Neumeier mit seinem Ensemble.
Fragmentvollender: Peter Ruzicka (re.) und Dennis Russell Davies bei Proben
in Gütersloh. Foto: Charlotte Oswald
Das Herzstück seines Spielplans aber komponiert sich Klaus Klein selbst. Er war einst Dramaturg
an der Hamburgischen Staatsoper, einem bekanntermaßen sehr modernen, für die Zeitgenossen aufgeschlossenen
Musiktheater. Mit diesen Verbindungen, und weil eben Gütersloh die Geburtsstadt Hans Werner Henzes ist,
organisierte Klaus Klein eine Reihe mit modernen Komponisten, die im Laufe der Jahre beachtlichen Umfang gewonnen
hat. Das Prinzip, das Klein dabei verfolgt, bewährte sich schon andernorts, in Berlin oder bei Wien modern:
Der Komponist zum Anfassen weckt nicht nur die Neugier des Publikums, dieses fühlt sich zugleich einbezogen
in Gespräche und Diskussionen, kann Fragen stellen und bei allem die Erkenntnis gewinnen, dass der jeweilige
Komponist eigentlich recht sympathisch ist und man deshalb seine Musik mit gebotener Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit
einmal ruhig anhören sollte. Den Komponisten gefiel das Modell Gütersloh ausnehmend gut.
György Ligeti reiste im Laufe der Jahre schon dreimal an Zitat: Gütersloh ist das schönste
Festival neuer Musik, das es gibt , Henze galten zwei Veranstaltungen und auch die Namen der anderen Komponisten
lesen sich wie ein kleiner Gotha der Moderne: Stockhausen, Messiaen, Feldman, Cage, Kagel, Kurtág, Berio,
Gubaidulina, um nur einige zu nennen. Nicht alle konnten dabei nach Gütersloh kommen, einige, weil sie
nicht mehr am Leben waren wie Feldman oder Cage, oder Kurtág, der sich gern solchen Präsentationen
entzieht und lieber ins Komponieren flieht.
Auf diese Weise entstand durch kontinuierliche Arbeit bei den Musikfreunden in Stadt und Region ein wachsendes
Interesse. Klaus Klein achtet darauf, dass die vorgestellten Werke der Komponisten auf entsprechend hohem Interpretationsniveau
angesiedelt sind. Kölner Rundfunksinfonieorchester, Südwestfunk-Sinfoniker, Arditti String Quartet
das ist für die Moderne das Beste, was es gibt. Sie waren schon häufig in Gütersloh, und
auch die Namensliste der Dirigenten und Solisten liest sich imponierend: Geballte Kompetenz für die Darstellung
Neuer Musik. Nur so kann Neue Musik überhaupt adäquat begriffen und erlebt werden: Wenn ihre Darstellung
präzise dem entspricht, was die Komponisten sich erdacht, vorgestellt und dann notiert haben. In Gütersloh
ist das immer wieder beeindruckend zu erfahren.
Die letzte Begegnung mit einem Komponisten Ende April dieses Jahres stand unter einem besonderen Zeichen:
Peter Ruzicka, terminlich ausgespannt zwischen seinen umfangreichen Verpflichtungen als neuer Festspielintendant
in Salzburg und als Leiter der soeben beendeten Münchener Biennale für Neues Musiktheater, nahm sich
die Zeit, nicht nur nach Gütersloh zu reisen, sondern auch noch mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden
und Freiburg ein anspruchsvolles Konzertprogramm mit eigenen Kompositionen für Gütersloh einzustudieren:
Das Orchesterwerk Tallis Einstrahlungen für großes Orchester aus dem Jahr 1993,
die Komposition Erinnerung Spuren für Klarinette und Orchester (2000), dann Satyagraha
Annäherung und Entfernung für Orchester (1984), ...Vorgefühle... für
Orchester (1998) sowie Fünf Bruchstücke für großes Orchester.
Ein zweites Konzert mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter Dennis Russell Davies umfasste die Stele für
Paul Celan nach Gedichten aus Zeitgehöft, die Ruzicka 1985 unter dem Titel ...der die
Gesänge zerschlug veröffentlichte, ferner die Sechs Gesänge nach Fragmenten von Nietzsche
für Bariton und Klavier (1992/97), Antifone Strofe für 25 Solostreicher und Schlagzeug
(1970 geschrieben), die Préludes, sechs Stücke für Klavier aus dem Jahr 1987 sowie
der vor zwei Jahren entstandene Tombeau für Flöte und Streichquartett. Das Arditti String
Quartet schließlich komplettierte das instruktive Komponistenporträt mit den vier Streichquartetten,
die 1970 (Nr. 1 und 2) sowie 1992 und 1996 geschrieben wurden. Außerdem hörte man noch den Streichquartettsatz
Klangschatten, den Ruzicka 1991 für den Musikverleger Alfred Schlee zu dessen neunzigsten Geburtstag
komponierte damals feierte zugleich Schlees Universal Edition ihren Neunzigsten. Zu dem festlichen
Ereignis hatten drei Dutzend Hauskomponisten klingende Grußadressen geschrieben.
Zur Dramaturgie der Gütersloher Komponisten-Präsentationen gehören auch Filme, Vorträge
und Gespräche. So auch im Falle Peter Ruzicka. Felix Schmidts und Holger Preußes Film-Porträt
Peter Ruzicka Mein Leben, im Umfeld der Celan-Uraufführung an der Dresdner
Staatsoper entstanden, nähert sich dem Komponisten, Intendanten und Dirigenten Ruzicka wohl etwas zu devot-huldigend,
um das komplexe Wesen der Person Ruzicka analytisch-klar zu erfassen. Da war der Vortrag Peter Beckers zur Musik
des Komponisten als Versuchte Nähe (so der Titel) schon präziser, und auch das Gespräch
des Musikkritikers Gerhard R. Koch mit Peter Ruzicka, unter das Thema ... den Impuls zum Weitersprechen...
gestellt, öffnete mannigfache ästhetische Perspektiven auf das Werk.
So weit gespannt entfaltet und reflektiert waren selbst so genannte Insider, die vieles von Ruzicka schon
gehört haben, überrascht von der Fülle und Vielgestaltigkeit eines kompositorischen Schaffens,
das so konzentriert dargeboten wie in Gütersloh, gleichwohl durch eine Einheitlichkeit beeindruckt, die
aus intensiven Fragestellungen, kritischen Reflexionen, musikalischem Denken und geschichtlicher Bewusstheit
erwächst. In seinen Anmerkungen zum musikalischen Denken von Peter Ruzicka, erschienen im Sikorski-Musikverlag
in einer Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag des Komponisten, unterscheidet Thomas Schäfer in Ruzickas
kompositorischer Entwicklung in drei Jahrzehnten drei Spuren, die er mit Fragmentästhetik,
Musik über Musik und Auf dem Weg zum Musiktheater (zur Celan-Oper)
überschreibt. Schäfer projiziert seine Untersuchung genau und einsichtig immer wieder auf das einzelne
Werk, wobei ihn des Komponisten eigene Anmerkungen im Sinne anschaulicher Genauigkeit unterstützten. In
Gütersloh drängten sich durch die Konzentration des Hörens die Differenzierung kompositorischer
Verfahren überwölbende Erfahrungen auf: Will man Ruzickas Musikschaffen auf eine, womöglich im
Sinne strenger Analyse zu plakative, Formel bringen, müsste man vor die alle Begriffe umschließende
Klammer die Geschichtlichkeit setzen.
In diese Geschichtlichkeit ist das bewusst Fragmentarische ebenso integriert wie in der Musik
über Musik die Zitiertechnik. Wenn Ruzicka Mahler, Allan Pettersson, Wagners Tristan
(im vierten Streichquartett) oder in Tallis die 48-stimmige Motette Spem in alium des
Renaissance-Komponisten Thomas Tallis beschwört, dann sind das keine Zitate, vielmehr Vergewisserungen:
darüber, dass die (unsere) Musik auch in den Phasen scheinbarer Entfernung letzten Endes nicht aus ihrer
Geschichtlichkeit herausfallen kann. In die Klänge von Ruzickas Musik treten die Klanggestalten Mahlers
und der anderen wie von fern kommend in unser Bewusstsein ein, entfernen sich wieder, aber die Spuren, die sie
hinterlassen, verlieren sich nicht. Diese Bewusstwerdung birgt zugleich auch ein wichtiges politisches Potenzial.