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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 34
51. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Fenster in den Elfenbeinturm
Das Kairos-Quartett Berlin entwickelt erfolgreich neue Hörformen
Wer hat Angst vor Neuer Musik? Eigentlich doch jeder, mit Ausnahme ihrer Macher und einer Hand voll eingeweihter
Hörer. Diese Meinung scheint nicht auszurotten zu sein schließlich verlässt so mancher
Abonnent noch immer selbst bei Strawinsky türenknallend den Raum. Experimentelles bleibt elitär; was
größere Massen und jüngere Generationen erreicht, büßt anbiedernd den Charakter des
verunsichernden Vorstoßes ins Unvertraute ein.
Doch es gibt Initiativen, die völlig andere, ermutigende Erfahrungen ermöglichen. Fünf
Fenster nennt das Berliner Kairos-Quartett seine noch bis Juni in der Kulturbrauerei laufende Konzertreihe,
öffnet sie für Schlaglichter ausgerechnet auf die altehrwürdige Gattung Streichquartett, die
sich in nach 1950 geschriebenen Werken eigentlich ihrer Tradition entsprechend als Brennpunkt
des Innovativen, Wagemutigen erweist. Dies jedoch nicht als unzugängliche Avantgarde, sondern als Angebot
zu mehrdimensionaler Kommunikation: auf der Ebene der Werke selbst in intelligenten, intensiven Interpretationen,
im anschließenden, völlig unzensierten Meinungsaustausch zwischen Spielern, Komponisten und Publikum,
im zwanglosen, doch von sinnvollem Gebrauch erzählenden Ambiente des alten Kesselhauses im Ost-Erbteil
der Kulturbrauerei. Indem hier jeder Hörer, gleich welcher Vorbildung und Erfahrung, die Chance erhält,
die eigene Wahrnehmung zu entdecken und ihr zu trauen, entsteht ein buntes Geflecht der unterschiedlichsten
Aspekte, der wechselseitigen Anregungen.
Der Begriff Kairos entstammt der griechischen Mythologie und steht für die persönlich
empfundene Zeit (im Gegensatz zum objektiven Chronos), auch den günstigen Augenblick.
Den scheinen die jungen Quartett-Mitglieder in der Tat immer wieder zu erwischen. Im Ensemble work in
progress, wo sich die Bratschistin Simone Heilgendorff und der Cellist Claudius von Wrochem kennen lernten,
entstand die Idee, einen Streicherkern zu bilden, ähnlich wie beim Ensemble recherche oder dem Klangforum
Wien. Zwei Geiger holte man von außerhalb. Die Aufführung von Isabel Mundrys No one anlässlich
der Verleihung des Busoni-Preises 1995 lief dann so gut, dass der Gedanke an einen selbstständigen Klangkörper
aufkam. Work in progress existiert heute mangels Finanzierungsmöglichkeiten nur noch auf dem
Papier, das Quartett blieb und fand 1997 mit den Geigern Wolfgang Bender und Chatschatur Kanajan seine endgültige
Besetzung. Es widmet sich ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts; neben Uraufführungen
stehen immer wieder auch richtungsweisende Kompositionen nach 1950 auf dem Programm, denen in der heutigen Uraufführungskultur
die angemessene Rezeption häufig versagt bleibt. Dass Neue Musik es besonders schwer hat, weil sie mit
ihrer Interpretation gleichgesetzt wird, ist vielleicht eine Binsenweisheit, die jedoch zu besonders engagierter
Arbeit herausfordert. Dabei versucht man sich auf der Suche nach dem eigenen Profil von anderen Formationen
stark abzugrenzen. Wir wollen ja nicht alles spielen, erläutert der Cellist von Wrochem, jedes
Ensemble versucht natürlich vor allem gute Musik zu spielen, die nicht nur im Moment irgendwie ankommt,
sondern die auch in die Zukunft weist, Menschen länger beschäftigt, die es lohnt, mehrmals anzuhören.
So interessieren uns etwa Stücke, die man der neuen Komplexität zurechnen kann; wir haben Klassiker
der Moderne wie Luciano Berios Sincronie oder György Kurtágs 1. Quartett auf CD eingespielt,
also Meilensteine der letzten 50 Jahre, wir haben auch einige Auftragswerke mittlerweile vergeben, und das ist
natürlich immer mit einem gewissen Risiko behaftet. Finanziell kann das Quartett dieses Risiko meistens
nicht selbst tragen, doch zu Werken unter anderem von Richard Barrett, Mark Randall-Osborn, Conrado del Rosario
ging von ihm immerhin die Initiative aus. Das Zweite Streichquartett des in Hamburg lebenden Ligeti-Schülers
Xiaoyong Chen war dagegen ein echter Auftrag.
Der Förderpreis der Ernst von Siemens Stiftung 2000 ermöglichte ein ungewöhnliches Projekt:
eine einwöchige Reise nach dem ukrainischen Lemberg, wo ein Werk des Ukrainers Alexander Shchetinsky einstudiert
und uraufgeführt wurde. Hier fand eine Initialzündung statt; auch bei nicht sehr kompromissvoller
Musik von Berio oder Mundry war das bei allen Konzerten zahlreiche Publikum völlig aus dem Häuschen.
Solche Unvoreingenommenheit und Offenheit habe ich in Deutschland selten erlebt; und auch in Metropolen wie
Moskau, wo das zeitgenössische Musikleben ein besonders hohes Niveau hatte, so erklärte man uns, wird
sie immer seltener, berichtet Simone Heilgendorff. Die defensive Haltung, sich für die Beschäftigung
mit der so aufreibenden Randerscheinung Neue Musik quasi entschuldigen zu müssen, hat sie dadurch
endgültig ablegen können.
Nicht alles spielen das bedeutet auch, sich der Traditionslinie, die von Beethoven bis zu
Schostakowitsch führt, eher zu verweigern. Einen Kompromiss stellt die Auseinandersetzung mit der Musik
von Georg Friedrich Haas dar, mit dem die Zusammenarbeit paradoxerweise zurzeit am intensivsten ist. Denn zumindest
im zweiten Quartett (1998) des Österreichers wird Dreiklangs-Schönheit auf den ersten Blick
derart eindeutig heraufbeschworen, dass wir dachten, dass wir so etwas Konventionelles nicht unbedingt
spielen müssen. Wo sich das Unvertraute gerade im Gewohnten zeigt, ob nun die reinen Klänge
des Obertonspektrums oder ihre temperierten bis achteltönigen Verschmutzungen als schön
zu empfinden sind oder gerade umgekehrt diese Wahrnehmungen und Erwartungen schichten sich innerhalb
eines ebenso minuziös abgestuften wie dramatisch-kontrastreichen Verlaufs immer wieder um. Auch der 1997
entstandene Quartett-Erstling, weitgehend in hektischen Bewegungen im ewigen Schnee der hohen Flageoletts
herumsausend und umso bestürzender in Dreiklangsflächen erstarrend, gab dem Publikum reichlich Assoziationsstoff.
Wie Autos auf einer Carrerabahn mutmaßte einer, was den Komponisten zur Darlegung der maschinellen
und künstlichen Wirkung natürlicher Klangspektren bewog, während seine
Einführung neuen Materials zum Schluss von den Zuhörern nicht als Ausblick, sondern eher
resignativ wahrgenommen wurde. Von dieser Diskrepanz hätte er ohne die Diskussion jedenfalls nicht erfahren.
Gänzlich andere Eindrücke vermittelte das Fenster American Experimental Tradition, das
mit Werken von Robert Ashley, Earle Brown, Morton Feldman, John Cage und dem Gast Alvin Lucier viel über
den unbefangen-kreativen Umgang mit Überkommenem aussagte damit auch über das Selbstverständnis
des Quartetts. Das 4. Fenster Komplex wird an die Grenze des Wahrnehmbaren und Ausführbaren
führen, mit Giorgio Nettis )place( aber auch über die Brauchbarkeit zwischen die Saiten
gesteckter deutscher und italienischer Telefonkarten zur Klangverformung Auskunft geben die italienischen
sind dünner. Permutationen in minimalen Veränderungen von Klangflächen schließen
die Reihe ab, unter anderem mit einer Mundry-Uraufführung. Bleibt nur zu hoffen, dass auch der Realisierung
der nächsten Pläne nach Streichquartett pur ein multimedial aufgefächertes
Streichquartett plus Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, gewogen sein wird.