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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 54-55
51. Jahrgang | Juni
Dossier: Auf der Suche nach einer Neuen Oper
Gesang der Wale oder Die stummen Seejungfrauen reden
Helmut Oehrings Musiktheater BlauWaldDorf wurde im Stadttheater Aachen uraufgeführt
Der Zusammenhang und die Wechselwirkungen von Hören und Sehen erscheinen selbstverständlich. Und
sie sind es doch nicht. Besonders nachdrücklich hat dies in den letzten Jahren Helmut Oehring ins Bewusstsein
gerückt. Er vermittelt, was diesen Zusammenhang und Kontrast betrifft, in hohem Maß autobiografisch
genährte Erfahrungen: 1961 in Berlin geboren, wuchs Oehring im Haushalt gehörloser Eltern auf (als
Hörender). Seit einigen Jahren forscht und komponiert er nun auf dem Feld der Audiovisualität. Freilich
wurde er, und das mag ihm heute (zum Erhalt einer gewissen Bodenhaftung) zustatten kommen, zunächst
zum Baufacharbeiter ausgebildet und jobbte auch in anderen praktischen Berufen; spielte nebenbei Gitarre. Doch
dann begann er, zunehmend intensiv, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen und überhaupt mit Fragen
des Hörens, der Wahrnehmung, des Hervorbringens von Ton, Klang und kommunikativen akustischen und nicht-akustischen
Äußerungen. Für ihn, so sagt er, sei Sehen wichtiger als Hören; und das Sehen gekoppelt
an Sprache, Kommunikation, Mitteilung.
Seejungfrau vor Rolltreppe: Für Oehring ist Andersens Märchen
auch Kindheitserinnerung. Foto: Stadttheater Aachen
Von Kindesbeinen an war er nicht nur, wie die meisten Kinder, von der alltäglichen Simultaneität
des Hörens und Sehens sowie deren Wahrnehmung geprägt, sondern auch, sogar primär von der dreidimensional-räumlichen
Syntax der Gebärdensprache, es war und ist die Kommunikationsform seines Elternhauses. Er lernte sie noch
vor der Lautsprache. Kein Zufall also, dass er seit seiner ersten an die Öffentlichkeit gedrungenen Komposition
Wrong (1993) in seinen Stücken und Beiträgen zu Gesamtkunstwerken regelmäßig
die Gebärdensprache verwendet, die einen extremen Gegenpol zu allen Tonsprachen bildet (es ist die einzige
Sprache, die ohne Bezug auf Auditives allein über das Auge funktioniert).
In den knapp zehn Jahren seit dem ersten Auftreten als Komponist mit dem als frappierend wahrgenommenen Hinweis
auf alternative Formen akustischer Wahrnehmung entwickelte sich Oehrings Komponistenkarriere steil.
Anfang der 90er-Jahre hatte er, spät berufen, bei Georg Katzer an der Akademie der Künste zu Berlin
studiert; wurde dann als Stipendiat der Villa Massimo in Rom und weitergehend mit einer ganzen Anzahl von Preisen
gefördert. Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr das noch vergleichsweise junge Komponistenleben
mit der Musik zu Thomas Schadts Film Berlin Sinfonie einer Großstadt (2001/2002), die
er (wie eine Reihe weiterer Arbeiten) gemeinsam mit Iris ter Shiphorst auf den Weg brachte.
Es ist kein Zufall, dass Oehrings kompositorische Ambition sich (und vehement) auf das Medium Film richtet,
denn dies so bekennt er freimütig spiele für ihn eine größere Rolle als die
herkömmlichen und neuen Formen der Musik. Sein künstlerisches Vorgehen sei denn auch, so konstatierte
Roland Kluttig, der die Berlin-Sinfonie mit dem SWR-Orchester einspielte, eher das eines Filmers.
Den Ablauf bestimmen harte Schnitte, Überblendungen, Fade in, Fade out. Die Szenen, Zwischenspiele und
Einschübe sind quasi Ortswechsel. Sie haben alle einen eigenen Raum, enger oder weiter. Erreicht wird das
durch wechselnde Ensemblegröße. Und Zufall war es auch nicht, dass Oehrings Mitte der 90er-Jahre
vom Berliner Hebbel-Theater produzierte (dann von der Münchener Biennale präsentierte) Tanz- und Video-Oper
Das dAmato-System als ein durch Filmschnitttechniken und Collage-Praktiken verwirrtes Produkt
erschien, dessen Szenen für sich erkennbar und beschreibbar, aber kaum verstehbar blieben (Wolfgang
Sandner, FAZ, 18.5.1996).
Da es ihm zu direkt sei, in der Sprache des Sehens Geschichten zu erzählen über
das Sehen, hat er sich darauf verlegt, an den Seh- und Hörgrenzen einer neuen Kammermusik und eines
neuen Musiktheaters die Probleme des Hörens und Sehens zu demonstrieren. Im vergangenen Jahr wiederum
mit Iris ter Shiphorst als Co-Komponistin in der Hülle einer veritablen Literatur-Oper:
Effi Briest nach Theodor Fontane (präsentiert von der MusikFabrik NRW in der Bundeskunsthalle
Bonn). Da tat sich zu einer anfechtbaren Reduktion des Romans und seiner (in ihren Artikulationsmöglichkeiten
zunehmend eingeschränkten) Heldin eine durchaus kunstfertige Kompositionsweise auf, die in freier Atonalität
ihren Ausgangspunkt hatte, auch immer wieder mit wild zerklüfteter Lineatur aufwartete, auffällig
aber zugleich durch Sext- und Terz-Kombinationen die Oberfläche reharmonisierte: Belebung und Beseelung
des weiten Psychogramms durch die illustrativen und kontrastierenden, mitunter einfach nur wattierenden und
begütigenden Mittel der Tonkunst. Effis Seelenlage verschaffte eine Gebärdensolistin mit erratischen
Gesten und auf Leiderfahrung verweisenden Gutturallauten zusätzlichen Nachdruck.
Der vom Posten des Dramaturgen an der Bonner Oper auf den Intendantensessel im Stadttheater Aachen gewechselte
Paul Esterhazy zog die nächste Oehring-Produktion an sein Haus: BlauWaldDorf oder weit-aus-ein-ander-liegende
Tage. Diese musiktheatralische OrtSuche, inspiriert von Hans Christian Andersens Märchen
von der Seejungfrau, erwies sich als Erkundungsreise der intensionsreichsten Art in die Grenzzonen des Hörens.
Theaterprinzipal Esterhazy trat als Reiseleiter auf: bei der Premiere von BlauWaldDorf und bei den
Folge-Vorstellungen warb er, wie bereits bei früheren neuen Werken, für das Verständnis des Publikums.
Diesmal freilich entwickelte sich das didaktisch von Musikbeispielen gestützte Vorprogramm zu einer künstlerischen
Introduktion aus dem Geist und mit einem zentralen Mittel des Hauptprogramms: Christina Schönfeld, eine
der gehör- und sprachlosen Gebärden-Solistinnen des Abends übersetzte die Anmerkungen simultan
in einer wahrhaft theatralischen Aktion in die Taubstummensprache.
Für Oehring war und ist Andersens Märchen vor allem Kindheitserinnerung und rätselhaftes Potenzial,
dem er auch bei der Transformation des Sujets auf der Musiktheaterbühne den Rätselcharakter belassen
möchte. Es ist die noch immer recht bekannte Geschichte des unergründlichen Wesens aus dem feuchten
Element, das um der Liebe willen den Fischschwanz ablegt (und dafür die beim Tanzen so schrecklich schmerzenden
Füße erhält), sogar die Stimme preisgibt. Diese Fabel wird freilich nicht als Märchen-
oder gar Kinder-Oper präsentiert, sondern als intellektuell kalkuliertes Produkt durchschossen mit
einem in Variationen weiterverarbeiteten Motiv aus Claudio Monteverdis Lamento der von Theseus verlassenen Ariadne.
Auch dieses Stilmittel wirkt in Oehrings uvre, wie die ganze Art seiner Melange, mittlerweile
vertraut: das 1998 bei den Donaueschinger Musiktagen vorgestellte Requiem integrierte im Streben
nach einem unmittelbar zu Herzen gehenden Sprachduktus des Tonsatzes in heiterer Cross-over-Laune
die Dissonanz-Standards der mitteldeutschen Neuen Musik mit Passus-durisculus-Chromatik, plakativem Posaunenlamento
und feschen Rock-Anklängen. Zu klagen gibt es allenthalben.
Bei seinem neuesten Projekt erzählte Oehring das Märchen nun nicht einfach nach, sondern
ließ es aus Gesten, gesungenen und eingeblendeten Text-Partikeln aufscheinen (zugleich eintrüben
von frei hinausassoziierenden Begriffen wie Verlorenwasser, erdkörperleicht oder
Trockengrauwind, BlikStille, luftkalt oder Ruhedorfmenschen).
Die vorwiegend ruhig tragende, nur gelegentlich von heftigen rockmusikinspirierten Eruptionen unterbrochene
Tonspur stützt die Gebärden-Choreographie der drei gehörlosen Solistinnen. Gemeinsam verkörpern
sie, denen Muscheln, Sandhügel und ein Goldfisch im Wasserglas als beziehungsreiche Symbole zugeordnet
sind, die Undine jene denaturierte Stumme der radikal modernisierten Fabel. Deren Idylle,
die keine ist, wurde vom Regisseur Claus Guth und vom Ausstatter Christian Schmidt an einen Un-Ort verlegt:
halb fensterloses Hotelzimmer mit Waschecke im Schrank, halb Ankunftsbereich eines Flughafens mit doppelter
Rolltreppe. Der Subtext weit-aus-ein-ander-liegende Tage erhielt eine auf Einheit des Orts und der
Zeit gerichtete Raumgrammatik zugesellt. Das hoch artifizielle Klang-Produkt fand so einen kühl-angemessenen
optischen Rahmen, im Dirigenten Jeremy Hulin einen engagierten Interpreten, im Bariton Hans Lydman und im Bassisten
Claudius Muth ein Duo moderner Prinzen, das gegen die optische und gestische Überlegenheit der drei Nixen
die der sonoren männlichen Organe aufbot.
Die aus einer frühneuzeitlichen Klangfigur entwickelten Lamento-Inseln verweisen ähnlich
entsprechenden Einsprengseln in Salvatore Sciarrinos Tödlicher Blume auf das, worum
es sich bei jeder anständigen Oper dreht (und seit der Erschaffung dieser Kunstform): um allergrößte
Liebe, allergrößte Erfüllung und allergrößten Schmerz durch das Scheitern, das Versagen,
das Vergessen, das Versprechen (Oehring). Dass schon zur Premiere eine größere Zahl Gehörloser
anreiste, wundert nicht. Sie bekamen etwas für sie unmittelbar Verständliches geboten. Freilich eröffnet
sich auch den Hörern eine neue Welt der Wahrnehmung und gerade denen mit den am Neuen interessierten
Eidechsen-Ohren. Denn bei der Liebe kommt es bekanntlich mitunter auf die kleinste Geste an und auf das genaueste
Zuhören. Wenn im Schlussteil der Produktion die drei so schönen taubstummen Akteurinnen endlich auch
einmal die Stimme erheben, dies eine Mal sich mit diesem für alle Liebesbekundung so entscheidenden Mittel
artikulieren wollen, überlagert die aus transformierter Monteverdi-Lineatur gewonnene Traurigkeit ein Ton
ganz besonderer Leiderfahrung, ähnlich dem Gesang der Wale in der Tiefe des Meers.