[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 53
51. Jahrgang | Juni
Dossier: Auf der Suche nach einer Neuen Oper
Alles Pest: Stürme, Vulkanausbrüche, einstürzende Türme
Uraufführung eines neuen Musiktheaters von Gerhard Stäbler in Duisburg: Madame La Peste
nach Jasienski und Poe
Gerhard Stäbler gehört zu den Komponisten, die unsere gesellschaftliche und politische Wirklichkeit
nicht aus den Augen verlieren. Er hat zwei Opern geschrieben: Für die Münchner Biennale für Neues
Musiktheater Sünde.Fall.Beil, nach Alexandre Dumas d.Ä., und für das Wiesbadener
Staatstheater CassandraComplex, nach Christa Wolf. Jetzt hatte Stäblers drittes Musiktheater
Premiere: die im Auftrag der Deutschen Oper am Rhein komponierte Madame La Peste. Nach Duisburg
ist die Aufführung auch in Düsseldorf zu sehen (letzte Vorstellung am 14. Juni 2002). In der nächsten
Saison siedelt sie an das Staatstheater Saarbrücken über.
Letzte Anweisungen des Komponisten: Gerhard Stäbler im Zuschauerraum
des Duisburger Theaters. Foto: C. Oswald
Nicht nur Hamlets, auch unsere Welt scheint aus den Fugen. Das Kino à la Hollywood schwappt über
in die Realität: Flugzeuge stürzen ab, Eisenbahnzüge kollidieren, Schiffsfähren sinken,
Wolkenkratzer brechen unter Terroranschlägen zusammen, Epidemien brechen immer häufiger aus, Aids
wütet vor allem in Afrika, sinnlose Kriege zerstören Länder und Landschaften, viele Menschen
hungern, werden krank, sterben vor Entbehrung, und in Nord-Indien bricht die Pest aus.
Das Kino macht sich über alles nicht viele Gedanken: Es war alles schon auf der Leinwand zu besichtigen
als Fiktion, die sich oft nur allzu schnell als Realität einstellte. Wie aber lassen sich die Katastrophen
abbilden, ohne dass die kassenträchtige Spekulation zum dominierenden Anlass gerät?
Diese Überlegungen bewegten Komponist und Künstler, als sie vor der Aufgabe standen, mit einer Oper
den Zustand unserer Welt zu spiegeln. Gerhard Stäblers Madame La Peste basiert zwar auf Texten,
die in der Vergangenheit entstanden sind, aber schon damals, als sie erschienen, wuchs das Gespür für
die Gefahren und den Zerfall einer müde und kraftlos gewordenen Gesellschaft. Sowohl der futuristische
Roman Pest über Paris, den der polnische Autor Bruno Jasienski 1928 veröffentlichte, als
auch Edgar Allan Poes bekannte Erzählung Der Untergang des Hauses Usher aus dem Jahre 1839
sind dunkle finale Beschwörungen menschlicher Existenz: Das Ende der Menschheit rückt näher,
doch die Menschen, sei es die Menge, wie in der Pest über Paris, oder die individuelle Zerstörung
von Leben in der Usher-Parabel, verhindern die Katastrophe. Vor dem Tod wird der Mensch erst noch mit Blindheit
geschlagen.
Jasienskis Roman und Poes Erzählung, die Debussy für sein Opernfragment benutzte, bieten zwei Perspektiven
des Verfalls. In Jasienski Buch gelangen gestohlene Pesterreger in das Trinkwasser der Stadt Paris, die daraufhin
von der Außenwelt abgeriegelt wird. In die fast surreale Schreckensvision geistert aus der Wirklichkeit
die Weltwirtschaftskrise hinein mit ihren katastrophalen Folgen für die gesellschaftliche und politische
Entwicklung nicht nur in Frankreich, auch und vor allem in Deutschland: Die Pest Wirtschaftskrise
evozierte die Pest des Nationalsozialismus und des Faschismus mit allen bekannten Folgen, die noch
bis heute psychisch nach-und weiterwirken, wie man an der augenblicklichen Antisemitismus-Diskussion erkennen
kann.
Stellt Jasienski mehr die äußere Perspektive dar, so zielt Poes Erzählung mit ihren traumatischen
Erlebnissen auf die innere, auf die Verwirrungen und Bedrängungen der kranken Psyche, die schließlich
zum Untergang führen. Es ist das Abbild des seelischen Zustandes einer bürgerlichen Endzeit-Gesellschaft,
die spätesten im Ersten Weltkrieg ausgelöscht wird. Aber auch hier wirken die Erschütterungen
nach, und in den politischen Verwerfungen der folgenden Zeit begegnen sich die Perspektiven: Sie sind untrennbar
miteinander verwoben.
Stäbler und sein Librettist Matthias Kaiser erkannten diese Koinzidenzen sehr präzis, als sie vor
der Aufgabe standen, für ihr Thema die textliche Grundlage zu erstellen. Jasienskis Roman findet sich in
den Pest-Szenen verarbeitet, Motive aus dem Untergang des Hauses Usher finden sich im
dritten von insgesamt vier Bildern. Das Usher-Thema wird allerdings auch schon zu Beginn angeschlagen,
wenn zischende Ratten als symbolischer Verweis unter dem Haus Usher auftauchen. Kaisers Textgestalt wirkt manchmal
in der Fülle für ein Musiktheaterwerk vielleicht etwas zu wort-und bilderreich.
Doch die Unverständlichkeit, die einige Besucher, auch Kritiker, nach der Premiere konstatieren wollten,
läßt sich dem Libretto nicht unterstellen. Die mit Zeichen, Motiven und symbolischen Chiffren (die
Ratten, die kläffenden Hunde) durchsetzten Handlungselemente offenbaren doch sehr plastisch und einsichtig
die oben skizzierten Absichten der Autoren. Daß sich Kaiser und Stäbler für die Madame La Peste,
die auch als Lady Madeline im Usher-Bild auftritt, für die Besetzung mit einer stumm agierenden
Tänzerin und Pantomimin entschieden, erweist sich als sinnstiftender dramaturgsicher Einfall: Die Sprachlosigkeit
der Figur verweist auf die gestörten Kommunikationen zwischen den Personen.
Als Pest-Figur gewinnt diese zugleich durch die Lautlosigkeit eine gesteigerte Bedrohlichkeit: das Unheil kommt
unhörbar näher. Der Tänzerin Hannele Järvinen (Bild Mitte) spielt, tänzelt, windet
sich mit wunderbarer körperlicher Präsenz und Agilität durch die Szenen.
Stäblers Partitur, ambitioniert konzipiert und mittels Zahlenreihen errechnet, gewinnt mit
einem 13-tönigen Pest-Akkord unmittelbar einen gleichsam magischen Klangraum. Akkordische Bläsersequenzen
und prägnante Schlagzeugeinsätze geben der Musik besondere Plastizität. Für die Chiffren
der Ratten (die Pesterreger) und der bellenden Hunde (Herrschaftssymbol) erfindet Stäbler markante rhythmische
Formeln. Für zusätzliche Klangfarben sorgen Harfe und eine Windmaschine. Weiteres Klangmaterial kommt
über das Zuspielband. Die Vokalpartien und die Choreinsätze zeigen eine klare und anspruchsvolle Sanglichkeit
ohne konventionelle Züge. Zitate von Debussy (vor allem im Usher-Bild) werden beziehungsvoll
als Musik über Musik in das Klangbild eingeführt. Das finale Tribunal gewinnt den Gestus
Großer Oper, wirkt dabei leicht übertourt (unser Bild oben). Vielleicht könnte eine Inszenierung
dort korrigierend eingreifen.
Regisseur Elmar Fulda und Bühnenbildner Florian Parbs befolgen nicht die oft sehr detaillierten Szenenbeschreibungen
des Librettos. Doch wirkt ihr technizistischer Einheitsraum durchaus sinnfällig für das Geschehen
und auch suggestiv.
Das Duisburger Orchester unter Günther Albers spielte in der vierten Vorstellung mit fabelhafter Genauigkeit
und ausgefeilter Klanglichkeit, spannungsvoll und engagiert. Das Stäblers Werk in dieser Inshzenierung
auch noch in Düsseldorf und später in Saarbrücken gezeigt wird, ist künstlerisch und ökonomisch
zu begrüßen.