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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 52
51. Jahrgang | Juni
Dossier: Auf der Suche nach einer Neuen Oper
Durchs Leben hasten dem Tod entgegen
Mr. Emmet takes a walk Musiktheater von Peter Maxwell Davies beim Festival 6 Tage
Oper in Düsseldorf
Exposition. Mr. Emmet begegnen wir jeden Tag. Morgens sitzt er neben uns in der U-Bahn, den Aktenkoffer aus
feinstem Vollrindleder auf den Knien, vertieft ins Studium von Dossiers, vollgeschrieben mit Zahlen und Tabellen.
Sendboten des großen Geldes. Emmet kennt seinen Weg. Erst wenn die Bahn am Zielort ankommt und die Türen
aufgehen, steht er auf. Nicht früher. Dann aber sehr entschieden, fast scheint er jetzt herauszustürmen.
Termine! Bei nächster Gelegenheit treffen wir Mr. Emmet im Gang des Fernzugs. Er eilt in die Erste Klasse,
wo er in aller Ruhe seine Lieblingszeitung und weitere Papiere ausbreiten kann. Im Vorbeigehen hinterlässt
er eine Duftmarke; Kenner registrieren ein erlesenes Herrenparfum. Noch bevor er die Abteiltür öffnet,
klingelt sein Handy.
Verrätselter Charakter: Mr Emmett, Handlungsreisender mit Selbstmordgedanken.
Foto: 6 Tage Oper
Szenen aus dem richtigen, nach anderer Lesart: aus dem beschädigten Leben. Mr. Emmet das ist die
seit Arthur Miller literaturfähig gewordene Figur des salesman, wofür das Deutsche den
etwas pejorativen Ausdruck Vertreter bereithält. Einer, der seinen Fuß in die Tür
stellen kann, wenns draufankommt. Sicher, Emmet würde hier Einspruch anmelden. Vertreter? Er macht
doch nicht in Staubsauger! Sein Metier ist von anderer Art: Industrial cleaning equipment, industrieller
Reinigungsbedarf. Ein Business, in dem es nicht um Peanuts geht.
Menschen wie Mr. Emmet gehören zu den Besserverdienenden. Sie bleiben gern unter ihresgleichen, ermessen
sie doch ihre Bedeutung an der Höhe der Abschlüsse, die sie tätigen. Das trennt sie vom Rest
der Welt. Wenn sie sprechen, tauschen sie Belanglosigkeiten aus, ohne darin das Abgründige zu bemerken:
Things to do: Water tomatoes. Make a will. Mr. Emmet bespricht sein Diktafon, drückt auf Wiedergabe,
um sich anzuhören, woran er sich erinnern will: Tomaten gießen. Ein Testament machen.
An anderer Stelle: People I hate: Americans. Americans wives. The Labour Party. Skate Boarders.
Durchführung. Unversehens sind wir in der Kunst angekommen. Wo sonst auch sollten wir etwas erfahren von
einem Leben, das sich im Verkaufen verausgabt? Cicerone ist in diesem Fall das Freie Musiktheater NRW.
NL.B. Nach eigener Einschätzung handelt es sich dabei um eine Plattform für zeitgenössisches
Musiktheater in Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden und Belgien. Ein grenzgängerisches Projekttheater,
das im Rahmen des 3. Europäischen Festivals 6 Tage Oper als jüngste Produktion die deutsche
Erstaufführung von Peter Maxwell Davies dramatischer Sonate Mr. Emmet takes a walk in
Szene setzte.
Nicht zum ersten Mal erklärte Regisseur Uwe Schmitz-Gielsdorf hierfür seine prinzipielle Not zur
Tugend. Mangels eines eigenen Hauses sucht er für seine Stücke Schauplätze in der Alltagswelt.
Buchte er für eine Händelsche Susanna den Escher-weltigen Treppenaufgang eines Amtsgerichts,
so entschied er sich jetzt für eine unterirdische Baustelle, einen kurz vor der Fertigstellung stehenden
Düsseldorfer U-Bahnhof. Neues Musiktheater an ungewöhnlichen Orten. Was in den letzten Jahren ausgesprochen
Mode geworden ist, war hier gleichermaßen sinnvoll, berührten beide Schauplätze doch die Substanz
der verhandelten Gegenstände. Insbesondere hatte es seine Berechtigung, die untergründige Geschichte
des Mr. Emmet auf U-Bahngleisen spielen zu lassen, wird dieser doch zum Vertragsabschluss mit dem Godot-verdächtigen
Gabor schlussendlich eben dorthin bestellt: Ebisu station, platform two. Real existierend in Tokio.
Welcher contract geschlossen wird, erfahren wir nicht. Stattdessen springt Emmet auf die Gleise.
Das Orchester intoniert zu Vogelgesang und Krähenkrächzen das Geräusch eines herannahenden Zuges.
Ende einer Dienstfahrt.
Rekapitulation. Bleibt die Frage nach dem Motiv: Wieso endet ein Handlungsreisender als Selbstmörder?
Was im Fall des armen Soldaten Wozzeck immerhin Opfer zweier fieser Leuteschinder in gewisser
Weise einleuchtet (der Frauen- und Selbstmörder aus verletzter Ehre), entbehrt im Fall des Mr. Emmet durchaus
der laienpsychologischen Feststellbarkeit. Dazu ist das jüngste und nach eigener Aussage (www.maxopus.com/works/mremmet.
htm) zugleich letzte (!) Musiktheater-Werk des Peter Maxwell Davies ein zu dunkles Gewässer,
wie sein Librettist David Poutney völlig zu Recht anmerkt. Nach keinem aus Film, Funk und Fernsehen bekannten
Schlüssel lässt sich dieser Theater gewordene Tristanakkord eindeutig auflösen. Dazu ist das
Werk zu bedrohlich, nicht zuletzt durch den auch in der Abwesenheit stets anwesenden Mr. Gabor, der mit dem
Abschluss des Vertrags winkt und ihn zugleich hinauszögert. Die düsteren Verzweiflungsfarben Kafkas
und Becketts. Doch Davies zieht noch weitaus mehr Register. Musikalisch bezieht er sich expressis verbis auf
Bach, Gabrieli, Schumann und Mozart. Emmets Ende, in der Ouvertüre als Trauermarsch vorweggenommen, vollzieht
sich wie im Don Giovanni als finale Sitzung zu Kerzenschein. Gabor leans over and blows out the candles.
Insgesamt ist hier ausreichend Stoff beieinander für weiteren inszenatorischen Feinschliff an einer funkelnden
Musiktheaterperle, die bei ihrer kontinentaleuropäischen Erstaufführung von Zsolt Nagy in jedem Moment
gut ausbalanciert war, wozu ihm das Ensemble Düsseldorfer Altstadt Herbst engagiert zur Seite
stand. Mr. Emmet takes a walk verwebt Oberfläche und Rätsel. Beides teilt sich mit in
jeder Geste, in jeder beiläufigen Handlung des unglücklichen Helden, der in Düsseldorf durch
den stimmlich wie schauspielerisch großartigen Bariton Martin Lindsay vertreten wurde. Freud jedenfalls
hätte seine Freude gehabt an einer Figur, die ihre Stereotypen als verdunkelte Wahrzeichen erkennen lässt,
die mit Visitenkarte, Handy und Diktafon herumläuft wie bei Berg/Büchner der Soldat Wozzeck als offenes
Rasiermesser durchs Leben hastet dem Tod entgegen.
Black humor. Das dem Tod vorausgehende Text-Leben des Mr. Emmet vertont Davies durchgehend syllabisch. Die
wunderbar-humorvollen Lakonismen, zu denen, wie auch an diesem Operntext zu sehen, das Englische so überaus
fähig ist (My card states clearly who I am. The relevant facts, the necessary items, short and flat,
white and black.) sollen mitgehört werden. Was treibt Emmet? Ob es auch verstanden wird, ist eine
andere Frage. Getriebene geben ihr Geheimnis nur selten Preis. Wie sollte das auch gehen nur mit Worten? Diese
reichen immer nur bis knapp an die Grenze. Your life is too complicated argwöhnt ein waiter,
worauf Emmet antwortet: Nein, es ist zu geradlinig. Too straight-forward. Ein Wahrsatz.
Kompliziert, um im Bild zu bleiben, ist allenfalls die Rollenauffächerung der beiden anderen Hauptdarsteller.
Die mit dem Schrubber hantierenden Putzteufel Todd (Wilfried Van den Brande) und Ka
(Rolande Van der Paal), Mit- und Gegenspieler Emmets, erscheinen als wahrhafte Chamäleons, nehmen jede
Gestalt an, die in Emmets Leben eine Bedeutung hat. Zum Beispiel die Mutter. Eigentlich ist sie tot, aber plötzlich
entdeckt sie Emmet am Klavier. Aber wir haben sie doch beerdigt!, ruft er erschrocken. Natürlich,
kommt die Antwort, aber das Klavier kannst du nicht zu Grabe tragen!
Noch so ein dunkel leuchtender Schlüsselsatz, der hier allerdings nicht nur auf die exzessive Keyboard-Besetzung
verweist, sondern klar macht, dass es (wenn überhaupt) die Musik ist, die ein solches dark water
auszuloten vermag.
Coda. Wer von der Musik spricht, darf von den Verhältnissen, in denen sie entsteht, nicht absehen. Dass
diese Premiere möglich wurde, war Verdienst einer Privatinitiative. Die von der Sprechbühne kommende
Schauspielerin Annette Bieker und der Regisseur Frank Schulz vom Düsseldorfer Theater Kontrapunkt
haben sich bei mehrfachen Besuchen auf der Newop, dem internationalen Jahrestreffen der Musiktheater-Erneuerer,
zur Kreation einer Europäischen Vereinigung für Kammeroper und Musiktheater animieren
lassen. Diese war jetzt zum dritten Mal Träger des (künftig nicht notwendig) in Düsseldorf stattfindenden
Festivals 6 Tage Oper. Ein Musikfest, dem die Ausdauer des Radrennklassikers zu wünschen ist.
Theaterleidenschaft und Theatervision haben einen neuen Namen dazubekommen.