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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 1
51. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Vakuum
Die jüngere politische und kulturelle Entwicklung in Deutschland steht unter Unterdruck. Alle Politik
drängt in die Mitte als dem gewünschten Ort eines kulturellen Stillstandes. In der Mitte lassen sich
die Menschen am einfachsten berechnen und unter innovativem Abschluss halten. Ein Kühlschrank für
den Geist und die Sinne, und gläsern gemacht, weil jeder Mensch ein vermeintlicher Extremist und Feind
der Gesellschaft ist, wie es jedes Kind von Natur aus eigentlich ist. So domestiziert man die Menschen
zum beliebig bespielbaren gesellschaftlichen Neutrum, zur kulturellen Null. Überwacht werden nicht mehr
nur Autokreuzungen, sondern sicherheitshalber und der Einfachheit wegen, die gesamten modernen Kommunikationsmittel:
von Webseiten bis zu E-Mails. Erziehung und Überwachung sind Synonyme geworden. Der gegenwärtige Metternich
heißt SchröderStoiber.
Als bestes Mittel der Überwachung von Kulturprozessen hat sich in den letzten Jahrzehnten deren finanzielle
Förderung erwiesen. Man lernte, wie man sich zu benehmen hatte, gegenüber den Geld-Verteilern in den
Amtsstuben. Die Einübung des Schleimens und Kriechens produzierte schließlich eine bürokratisch
perfektionierte Antragsstellerkultur, die am Ende keine Inhalte ihr Eigen nennt, sondern nur noch in der Kunst
der Extraktion von Businessplänen aus Excel-Tabellen sich auskennt.
Nun bekommt man dafür die Rechnung präsentiert. Man lernt abzuwirtschaften und lernt, was es heißt,
sich damit abzufinden. In dieses Kalkül passt ausgezeichnet der Aufruf des neuen Landesvorsitzenden der
CDU Berlins, Christoph Stölzl, der zur Restaurierung einer Bürgerlichkeit aufruft und
das Ehrenamt als vorzugsweise Lebensweise von Kultur anpreist. Prima.
Kultur und Politik waren sich einmal spinnefeind. Diese Feindschaft hatte ihre guten Gründe: Während
das Ziel menschlicher Kultur immer schon auf eine Selbstverwirklichung und -bestimmung von Menschen im sozialen
Raum mithin auf die Entwicklung ihrer Autonomie aus war, mag ein solcher Begriff von sozialer
Individualität nicht ins Programm politischer Vier-Jahres-Bildungs-Pläne passen. Die Anpassung der
Kultur an die Politik vollzieht sich heute mit den Mitteln der industrialisierten Kultur. Die kulturellen Kaltmacher
und Volksbilder finden sich zur besten Sendezeit im Abendprogramm von Sat.1 bis Pro7. Stefan Raabs Pseudoaufbegehr
ist momentan die Signatur dieser luftlosen Kultur. Raab saugt die vorletzten Momente des Widerstands in den
Bereich des Lächerlichen und der Entmenschlichung. Das ist keine Opposition sondern die Verkleidung ihrer
Anpassung.
Zu fürchten ist gegenwärtig nach dem so genannten Krieg gegen den Terrorismus ein ebensolcher
gegen eine explizite und damit notwendig extreme Kultur. Nur als Feind des gesellschaftlichen Stillstands ist
die Kultur ein Freund einer Gesellschaft, die sich im Spiegel ansehen kann.