[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 6
51. Jahrgang | Juni
Musikwirtschaft
Unkommerzielle Aufnahmen als Chance
Digitale Techniken mittels Computer und Festplatte eröffnen neue Möglichkeiten
Musik ein Teil unserer Realität und für viele unverzichtbar. Sie wird verbreitet durch CDs,
Schallplatten, Kassetten und natürlich durch die Medien. Doch auf Tonträgern oder im Rundfunk kann
man nur das hören, was aufgezeichnet und veröffentlicht wurde. Damit ist das, was uns auf diesen Wegen
zu Ohren kommt in der Hauptsache der Teil der Musik, den man als erfolgreich oder etabliert bezeichnen
kann, eben die Hits in der Popmusik und die Standards in der Klassik oder im Jazz.
Nun besteht der komplexe Kosmos der Musik ja glücklicherweise nicht nur aus dem, was die Musikindustrie
vermarktet, sondern auch aus den unzähligen ambitionierten musikalischen Aktivitäten, die Komponisten,
Texter und Interpreten von der (echten) Volksmusik über den Jazz bis zur Klassik unternehmen. Leider bleibt
aber vieles, was aus reiner Freude am Komponieren oder Musizieren entsteht, entweder völlig ungehört
oder wird vielleicht gerade einmal öffentlich dargeboten und verschwindet danach sang- und klanglos von
der Bühne, so dass es für die Nachwelt verloren ist. Selbst bei Musik- und Kompositionswettbewerben,
die mit beträchtlichen Preisgeldern ausgestattet sind, werden selten Anstrengungen für eine adäquate
Archivierung unternommen. Aufnahmen zeitgenössischer Kompositionen wären aber gerade heute für
alle Musikstile wertvoll, um neue Impulse zu geben und den Dialog über Richtung und Vielfalt neu zu beleben.
Während einige wenige Komponisten und Interpreten ihre Konzerte privat dokumentieren, geht die überwiegende
Mehrheit davon aus, dass eine Aufnahme in einem professionellen Studio oder insbesondere ein Konzert-Mitschnitt
enorme Kosten verursacht. Vor Augen haben sie dabei, wie ein Recordingmobil ein Tonstudio
auf Rädern mit vielen Technikern anrollt, viele Meter Kabel verlegt werden und ein Wald von Mikrofonen
samt Stativen im Konzertsaal installiert werden.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Es gibt durchaus Mittelwege zwischen der Cassetten-Aufnahme und
dem Non-Plus-Ultra-Mitschnitt durch die Deutsche Grammophon.
Mobile Chancen
Die digitale Aufnahmetechnik von heute mittels Computer und Festplatte bietet hier eine große Chance.
Durch den Einsatz des Computers als mobiles Aufzeichnungsgerät kann man relativ günstig hochwertige
Aufnahmen erstellen und zwar genau dort, wo es für die Ausführenden am angenehmsten und für die
Aufnahme am sinnvollsten ist, nämlich in der gewohnten Umgebung. Das kann vom Musikzimmer über die
Kirche bis hin zum Konzertsaal überall sein. Damit vermeidet man die künstlerischen Hemmungen, die
viele Musiker beim Aufnehmen in der technischen Umgebung eines Studios haben. Je nachdem was aufgezeichnet werden
soll, sucht man sich wenn möglich vor Ort einen Raum mit adäquater Akustik: zum Beispiel für
Choraufnahmen eine Schulaula, einen Gemeindesaal, eine Kirche oder im Optimalfall einen Konzertsaal. Auch der
Wunsch, bei der Aufnahme ein ganz bestimmtes Instrument zu benutzen, das nur an einem einzigen Ort zur Verfügung
steht, wie etwa ein bestimmter großer Konzertflügel, lässt sich mit mobiler Aufnahmetechnik
von heute leicht realisieren, selbst wenn die Aufnahme im Showroom eines Pianohauses stattfindet und der adäquate
Nachhall eines Konzertsaales später elektronisch hinzugefügt wird. Gerade im Bereich der Folklore
und Klassik lässt sich das gesamte Material für eine CD-Produktion meist innerhalb eines Tages vor
Ort aufzeichnen. Ein Zeitaufwand, von dem eine Pop-Produktion hinsichtlich der reinen Aufnahmezeit nur träumen
kann. Die Aufnahmen werden dann später im Studio digital weiterverarbeitet: Zunächst erfolgt der Schnitt,
das heißt die Anfänge und Enden der Aufnahmen werden bereinigt, gegebenenfalls werden verschiedene
Aufnahmeversionen miteinander kombiniert. Daran schließen sich (bei Mehrspuraufnahmen) die Abmischung
und das Mastering der CD an, die heutzutage das typische Medium für die endgültige Fassung der Aufnahme
darstellt, wobei die DVD bereits auf dem Vormarsch ist.
Power-Rotation
Seit einiger Zeit hört und liest man nun von den Klagen der Plattenindustrie über die rückläufigen
Verkaufszahlen. Neben den Verlusten durch das CD-Brennen im privaten Bereich spielt natürlich
auch die Tatsache eine Rolle, dass pro Tag Unmengen von Neuveröffentlichungen auf den Markt kommen, die
den derzeit herrschenden Musikgeschmack repräsentieren und deren Bestseller sofort in der Power-Rotation
der kommerziellen Radio- und Fernsehsender landen. Wenn einem der Titel jedoch aus jeder Ecke entgegenschallt,
besteht für viele Hörer keinerlei Anreiz mehr zum Kauf. Dennoch ist bis jetzt eine Kurskorrektur in
der Musikindustrie nicht erkennbar: im Pop ertönt ein Hit gleich dem vorhergehenden und in der Klassik
bleibt man bei bewährten Gassenhauern.
Die daraus resultierende Monochromisierung zu Deutsch: der Einheitsbrei ist für die Musiklandschaft
insgesamt natürlich von großem Nachteil. Zu Recht wird gemutmaßt, dass sich die Plattenfirmen
durch das immerwährende Aufwärmen des alten Repertoires möglicherweise auf Dauer ihr eigenes
Grab schaufeln.
Neue Impulse
Hier könnten nun selbst initiierte Aufnahmen und Eigenvertrieb der Tonträger auf Dauer neue Basis-Impulse
setzen, denn wenn sich unter Umständen schon der Lokal-Sender vor Ort nicht mehr um die lokale
Musikkultur kümmert, dann wird es Zeit für die Eigeninitiative. Dabei können zum Beispiel Musikvereine,
Kulturbünde oder Musikschulen als wichtige Initiatoren, Katalysatoren und Vertriebswege fungieren. Um zu
komponieren und zu musizieren, sollte man den Kopf frei haben. Frei von Anlehnungen an bereits erfolgreiche
Kompositionen, frei von Ausrichtung auf Zielgruppen, frei von Klassifizierung der Musik in Sparten oder Schubladen.
Wenn es schon den etablierten, sprich erfolgreichen, finanziell unabhängigen Größen der Musikindustrie
nicht gelingt, individuelle und neue Musik zu produzieren, dann könnte es in der Zwischenzeit der inspirierte
Privat- , Hobby- , oder semiprofessionelle Musiker versuchen. Vielleicht greift zu der Zeit, da im Radio praktisch
nur mehr ein einziger Song läuft, die Plattenindustrie gerne auf dieses eigentlich unkommerzielle Material
zurück, um wieder ins Geschäft zu kommen. Für den Komponisten oder Musiker bleibt jedoch immer
eins das wichtigste: seine Aufnahmen anhören und genießen zu können im Hinblick auf die Archivierung
des Moments und die Dokumentation seiner eigenen musikalischen Entwicklung.