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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 38
51. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Eine Frau mit Erfahrung
La bohemienne: Marianne Faithfull und ihr neues Album Kissin Time
Davon träumt wahrscheinlich jeder Künstler und im Lande Pop, wo nur die Jugend zu zählen
scheint und die Zeit noch rascher vergeht als anderswo, vielleicht am meisten: dass es weitergeht, dass man
Fixstern ist und nicht nur Sternschnuppe, dass auch die nächste Generation sich auf das eigene Werk bezieht.
Marianne Faithfull ist, zumindest auf ihrem neuen Album, nicht die alternde Diva, einsam und verloren, sondern
die Königin der Männer, die scheinbar nichts falsch machen kann: von Beck bis Damon Albarn, von Jarvis
Cocker bis Dave Stewart.
Fast scheint es, als sei Marianne Faithfull zu ihren Anfängen zurückgekehrt. Damals, 1964, die Swinging
Sixties begannen gerade, sie war 17, sehr blond, sehr schön, sang sie den ersten Song, den Mick Jagger
und Keith Richard überhaupt zusammen geschrieben haben und machte ihn zum Hit: As Tears Go By
war eine helle Hymne, die ihre Durchschlagskraft freilich einem düsteren Grund verdankte und Marianne Faithfull
war eine junge Frau, deren Unschuld reizte und provozierte.
Unverwechselbar: Marianne Faithful Foto: Virgin
Fast vier Jahrzehnte später hat Marianne Faithfull (fast) alles hinter sich: ihr einst glattes und leuchtendes
Gesicht ist so wüst und zerstört wie ihre Stimme, ihr Leben nicht mehr voller Erwartungen, sondern
ein Trümmerfeld. Sie hat, als Virtuosin einer grenzenlosen Selbsterfahrung, als Freundin Jaggers,
am Ende als Junkie die Fröste der Freiheit erfahren, hat sich im Niemandsland der Emanzipationen
und Utopien verirrt und ist nach einer schwarzen Dekade Ende der 70er-Jahre, gerade erst jenseits der 30, mit
Broken English zurückgekehrt als Exempel der erfahrenen Frau: The Ballad of Lucy Jordan,
die Dr. Hook schon aufgenommen hatte, schien ihr wie auf den Leib geschrieben. Marianne Faithfull, die Glücksfee,
wurde zur Troubadourin der Tristesse, zur Phänomenologin der Verluste und der Schmerzen, zur Exegetin des
Entzugs. Groß war sie aber nicht so sehr in der Entsagung, sondern in der Bitternis ihrer
Revolte.
Mit Strange Weather gelang ihr eines der besten Alben der 80er- Jahre: der Titelsong stammte von
Tom Waits, aber aus ihrem Mund klang er authentischer. In den 90er-Jahren wurde Marianne Faithfull artsy,
aber keineswegs steril: Kurt Weill ersetzte Waits, für das Gebrochene, das längst zum
Markenzeichen der neuen Marianne Faithfull geworden war, fand sie jetzt auch die adäquate musikalische
Sprache. Der Twentieth Century Blues (1996) kam nicht mehr so sehr von den sengenden Baumwollfeldern,
sondern eher von den urbanen Schlachtfeldern der Brecht-Tradition. Nicht vollkommen frei von einem bitter-sweeten
Sentiment und einer Lust auf trivialmythische Archetypen fand sie neue Role-models: die Hure und die Krankenschwester.
Sie tat so, als könnte sie beides zugleich sein: grenzenlos barmherzig und von Rachefantasien scharf
gemacht. Ihre Version von Brecht/Weills Die sieben Todsünden wurde bei den Salzburger Festspielen
uraufgeführt ist es Verzweiflung oder ist es das Glück, könnte man den fragen, der so
reüssiert.
Anno 2002 also die Rückkehr zu den Anfängen, zum Pop und zu den Pop-Stars, die sie damals förderten
und ausbeuteten, für die sie Muse und Mädchen für alles war. Nur lockt jetzt an Marianne Faithfull
nicht mehr die süße Haut, sondern der Abgrund eines langen Lebens. Erotik hat, wenn sie die ihr eigene
Betriebstemperatur erreicht, immer auch mit Auslöschung zu tun.
Beck Hansen, cooler und mehr Chamäleon als die anderen, verschafft ihr einen klirrenden Auftakt. Zu ihrem
obszönen sex with strangers-Bekenntnis entwirft er einen technoiden Soundtrack, der die Hoffnung,
dass hinter jedem Ende ein neuer Anfang wartet, hinter jedem Totalverlust der Illusion eine noch schrägere
Bereitschaft, marionettenhaft erscheinen lässt. Als wäre der sehnsüchtige Körper eine Maschine,
die die Seele in ihren Sog hineinreißt.
Einst war Marianne Faithfull die Jüngere, lockende Natur, Muse. Jetzt genießt sie es, die Ältere
zu sein, die nicht nur zuschaut, wie sie ihre Söhne inspiriert, sondern die deren Songs, so
seltsam und eigen sie auch sein mögen, in den Sound, das Grundrauschen der eigenen Existenz zurückverwandelt.
Kissin Time ist beides: eine Art Best-of-Sampler mit größtenteils unveröffentlichten
Meisterwerken der Architekten des 90er-Jahre-Pop; und ein unverwechselbares Marianne Faithfull-Album.
In Patrice Chéreaus obsessiver Existenz-Erkundung Intimacy, die im vergangen Jahr bei der
Berlinale den Goldenen Bären bekam, spielt sie die Freundin der Protagonistin im Lucy-Jordan-Alter, die
sich in den sex with strangers wie eine Ertrinkende stürzt: absolut und ohne Konsequenz, den
Augenblick aufladend, weil es keine Zukunft gibt. Und Marianne Faithfulls Gesicht ist der beredte Kommentar
zu den eher lakonischen Abläufen. In Kissin Time spricht sie aus, was sie dort darstellt: dass
es in ihr noch so viel Leben, Sehnsucht, Lust gibt, aber keinen Ort der Erfüllung; dass sie etwas ist oder
sein könnte, das kein anderer mehr will oder auch nur annimmt. Am Ende läuft alles auf die simpelste
und tragischste Alternative hinaus: Are you with me here or am I alone? Dazu künstlichste Club-Musik
von Etienne Daho, das was die Amerikaner unterschiedslos House nennen.
Und als könnte man nur man selbst sein, wenn man lang genug in den Spiegel geschaut hat, betreibt Marianne
Faithfull Vergangenheitsbewältigung. Sie überlegt, wie das mit den Eltern war (My father promised
me roses, my mother promised me thorns), als wäre die ödipale Struktur das, was alles weitere
bestimmt, immer und überall. Und sie entwirft im Song For Nico das Bild eines Doubles. Das
Sixties-Model und die Velvet Underground-Sängerin hat sich, anders als sie selbst, nicht erholt, ihr Multi-Amphetamin-Mix
aus Euphorie und Verzweiflung endete tödlich, aber was Marianne Faithfull über Nico singt Already
in the shit though shes innocent, das könnte auch ihr Lebens-Resümee sein wenn
da nicht in der wachsenden Gefahr auch die Rettung sichtbar würde: Kunst und, mehr noch, Kunst-Kooperation;
Erlösung in der gemeinsamen Beschreibung dessen, was passiert ist.